Krieg in Libyen:Rebellen rüsten sich für Kampf um Gaddafis Heimatstadt

Lesezeit: 3 min

Die libysche Hauptstadt Tripolis ist weitgehend in der Hand der Rebellen - nun rücken die Aufständischen auf Sirte vor. Auch die Nato nimmt zunehmend die strategisch wichtige Heimatstadt Gaddafis unter Beschuss, die noch immer von Getreuen des Diktators kontrolliert wird. Der Übergangsrat der libyschen Rebellen fällt derweil erste Regierungsentscheidungen - und weigert sich, den schwerkranken Lockerbie-Attentäter ans Ausland auszuliefern. Nach Informationen von CNN soll dieser in Tripolis im Sterben liegen.

Nach der weitgehenden Eroberung der Hauptstadt Tripolis stehen die Rebellen in Libyen nach eigenen Angaben vor dem Kampf um Sirte, der Geburtsstadt des untergetauchten Diktators Muammar al-Gaddafi. Aus allen Landesteilen sollen die Aufständischen Kämpfer in dieser Region zusammengezogen haben, berichtet der Nachrichtensender B5.

Nach Tripolis nun Gaddafis Heimatstadt: Ein Rebellenkommandeur am Sonntag an der Front etwa 160 Kilometer vor Sirte.  (Foto: AP)

Die Küstenstraße zwischen Tripolis und Sirte sei inzwischen unter Kontrolle, sagte ein Militärsprecher der Übergangsregierung am Sonntag. Sie liegt etwa in der Mitte zwischen Tripolis und der Rebellen-Hochburg Bengasi. Die Übergangsregierung verhandelt seit Tagen über eine friedliche Übergabe der strategisch wichtigen Küstenstadt, bislang ohne Ergebnis.

Den Kämpfern bereiteten mögliche Chemiewaffen und Raketen größerer Reichweite der Gaddafi-Truppen am meisten Kopfzerbrechen, zitierte der arabische Nachrichtensender al-Dschasira Fadl Harun, einen Befehlshaber der Rebellen. Im Fall eines Angriffs würden sie auf Unterstützung der Nato setzen: "Sobald die Nato den Weg freigemacht hat, werden wir auf Sirte vorrücken", sagte Harun.

Die Nato nimmt Sirte zunehmend unter Beschuss. Am Sonntag wurden in Sirte und der Umgebung vier Radarstationen, drei Militärfahrzeuge, eine Antenne und zwei Boden-Luft-Raketensysteme zerstört, wie die Nato am Montag mitteilte. Auch 20 Behälter für Boden-Luft-Raketen seien getroffen worden, hieß es. Von den insgesamt 38 Angriffen des Bündnisses richteten sich zudem vier gegen Ziele in der Stadt Waddan und sieben gegen Ziele in der Stadt Ras Lanuf.

In der libyschen Hauptstadt Tripolis sind in der Nacht zum Montag kurz nach dem Überflug einer Nato-Maschine mehrere schwere Explosionen zu hören gewesen. Wie ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP berichtete, war zunächst nicht klar, woher die Explosionen stammten. Die Rebellen, die ihre Siege mit Freudenschüssen in die Luft gefeiert hatten wie jeden Abend, stellten nach den Explosionen das Feuer vorübergehend für einige Minuten ein.

Nach Angaben der Aufständischen ist Tripolis nahezu vollständig unter ihrer Kontrolle. Nur einige wenige bewaffnete Anhänger des langjährigen Machthabers Gaddafi sind demnach noch aktiv, insbesondere nachts. Bei den Explosionen könnte es sich um die Bombardierung solcher Kämpfer gehandelt haben.

Lagerhaus mit Leichen

Der Chef der Übergangsregierung, Mahmud Dschibril, räumte am Sonntag ein: "Das Regime ist noch nicht gestürzt. Der Fall von Tripolis ist ein Symbol", sagte er der arabischsprachigen Tageszeitung Asharq al-Awsat aus London.

Nach Angaben eines Rebellenkommandeurs in Tripolis vom Sonntag ist der Hauptgrenzübergang nach Tunesien zwar eingenommen worden. An der Küstenstraße, die nach Ras Ajdir führt, gebe es aber noch "einzelne Widerstandsnester". Das Problem sei, dass man nicht genug Kämpfer habe, um alle Regionen gleichzeitig zu durchkämmen.

Am Wochenende sind weitere Grausamkeiten der Schlacht um Tripolis ans Licht gekommen. In einem Stadtteil sahen Fotoreporter ein Lagerhaus mit mehreren verkohlten Leichen. Anwohner berichteten, die Gaddafi-Truppen hätten in dem Gebäude Zivilisten gefangen gehalten. Als sie das Gelände nicht mehr hätten halten können, hätten sie das Gebäude angezündet.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erhob schwere Vorwürfe gegen die Sicherheitskräfte Gaddafis. Es gebe Beweise für willkürliche Hinrichtungen von Häftlingen, als die Rebellen in die Hauptstadt Tripolis einrückten, teilte die Organisation am Sonntag mit. Gaddafi-Getreue hätten außerdem selbst medizinisches Personal getötet.

Der Übergangsrat sucht nach mehr als 50.000 Häftlingen, die spurlos verschwunden sind. Diese Gefangenen würden möglicherweise in unterirdischen Bunkeranlagen festgehalten, sagte Sprecher Schamsiddin Ben Ali. Nach der Einnahme von Tripolis hätten die Aufständischen auch in Krankenhäusern verkohlte Leichen Hunderter Gefangener gefunden.

Der libysche Übergangsrat räumte knapp eine Woche nach dem Fall von Tripolis erstmals eine humanitäre Krise in der Hauptstadt ein. Der Sprecher des Rates forderte deshalb alle im Ausland arbeitenden libyschen Ärzte auf, sofort in ihre Heimat zurückzukehren.

Die Lage in den Krankenhäusern der Hauptstadt sei dramatisch, sagte Schamsiddin Ben Ali. Neben Ärzten sei wegen der vielen Verletzten auch mehr Nachschub an Medikamenten und medizinischem Gerät notwendig, sagte der Sprecher dem arabischen Fernsehsender al-Dschasira.

Die Jagd nach Gaddafi macht derweil offenbar keine großen Fortschritte. Der Chef des Übergangsrates, Mustafa Abdul Dschalil, räumte ein, dass es derzeit keine gesicherten Informationen über den Aufenthaltsort des 69-Jährigen gebe. Ein Militärsprecher schloss Verhandlungen mit dem Diktator aus.

Der Übergangsrat der libyschen Rebellen hat unterdessen Forderungen von US-Politikern zurückgewiesen, den bereits verurteilten Lockerbie-Attentäter ans Ausland auszuliefern. Wie der US-Nachrichtensender CNN meldet, liegt der 2009 freigelassene Attentäter Abdelbaset al-Megrahi offenbar ohnehin im Sterben.

Der Sender hat nach eigenen Angaben vom Sonntag Megrahi in seinem Haus in Tripolis gefunden, wo er von seiner Familie versorgt werde. Er liege im Koma, erhalte Sauerstoff und hänge am Tropf. Die Familie beklagte, dass er nicht ärztlich betreut werde, sondern zu Hause gepflegt werden müsse.

Der Justizminister der Aufständischen, Mohammed al Alagi, sagte zudem am Sonntag, kein libyscher Staatsbürger werde ausgeliefert. Es sei Gaddafi gewesen, der libysche Staatsangehörige ausgeliefert habe, sagte er mit Blick auf Megrahis Prozess in Schottland. Eine kürzliche Aufforderung von US-Senatoren, Megrahi umfassend zur Verantwortung zu ziehen, sei bedeutungslos, weil der Attentäter bereits vor Gericht gestanden habe und verurteilt worden sei.

Die schottische Regionalregierung hatte den 2001 zu lebenslanger Haft verurteilten Megrahi im August 2009 aus humanitären Gründen begnadigt. Zuvor hatten Ärzte bei ihm Prostatakrebs im Endstadium diagnostiziert, aufgrund dessen er nur noch drei Monate zu leben habe. Megrahi hat stets seine Unschuld beteuert.

Bei dem Attentat auf eine Boeing 747 der US-Fluggesellschaft PanAm über dem schottischen Lockerbie waren 1988 insgesamt 270 Menschen gestorben - darunter viele Amerikaner. Al-Megrahi ist der Einzige, der jemals dafür zur Rechenschaft gezogen wurde.

© AFP/dapd/dpa/Reuters/gal - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: