Krankschreibungen:Manchmal geht's auch mit halber Kraft

Warum sollte jemand, der sich nur zu 70 Prozent fit fühlt, nicht auch 70Prozent seiner Arbeitskraft erbringen? Die Idee, manche Patienten nur teilweise für arbeitsunfähig zu erklären, ist jedenfalls bedenkenswert.

Von Werner Bartens

Ein bisschen schwanger geht nicht - ein bisschen krank jedoch schon. Jeder kennt das, der schon mal verrotzt, verkatert oder anderweitig ausgelaugt war und eine Spur zu wenig Schlaf, Willen und Energie hatte, um volle Leistung zu bringen. Insofern ist es nicht von vornherein eine falsche Idee des Sachverständigenrats Gesundheit, Patienten manchmal nur teilweise arbeitsunfähig schreiben zu lassen. Auch mit halber Kraft lässt sich ein Schiff steuern.

Klar, an einem Beinbruch, einem Infarkt oder einer Blutvergiftung lässt sich wenig deuteln. Aber Krankheit ist oft nicht eindeutig festzulegen. Das Befinden entspricht in etlichen Fällen einem Kontinuum, das von einer leichten Einschränkung bis zur schweren Störung viele Zustände umfasst. Warum sollte jemand, der sich nur zu 70 Prozent fit fühlt, nicht auch 70 Prozent seiner Arbeitskraft erbringen? Manche kreative Leistung fällt vielleicht sogar origineller aus, wenn sie im verklingenden Dämmer einer Kopfschmerzattacke ersonnen wurde.

Aus medizinischer Sicht ist es wichtig, dass Körper und Geist nach einer Krankheit die Erholung bekommen, die sie brauchen. Niemand sollte die Rekonvaleszenz verkürzen müssen und sich unter Druck fühlen, früher am Arbeitsplatz zu erscheinen. Aber viele Befindlichkeitsstörungen haben nur bedingten Krankheitswert. Sie lassen Berufstätigkeit in eingeschränktem Umfang zu, wenngleich dies Aufrichtigkeit vom Arbeitnehmer wie Verständnis vom Arbeitgeber erfordert.

Es ist nicht immer eindeutig, ob und wie arbeitsunfähig jemand ist

Derzeit ließe sich der Vorschlag der Sachverständigen politisch nicht umsetzen. Aber bedenkenswert ist ihre Idee schon deshalb, weil die gegenwärtige Regelung viele Schwachstellen hat. Fühlt sich ein Angestellter nach einem durchzechten Wochenende unwohl, schafft er es am Montag vielleicht nicht zur Arbeit, aber zum Arzt. Der schreibt ihn drei Tage krank, manchmal länger. Der Begriff "krankfeiern" bringt den Missstand zum Ausdruck. Es ist unsäglich, dass manche Mediziner wider besseres Wissen Patienten diesen Gefallen tun, um sie an sich zu binden. Gerade für Firmen und Selbständige mit wenigen Angestellten ist die willkürliche Krankschreiberei eine Belastung, die sich nicht immer kompensieren lässt.

Die deutsche Sprache lässt in Gesundheitsfragen wenig Differenzierung zu. Im Englischen gibt es "Disease", "Sickness" und "Illness" - verschiedene Perspektiven für das, was wir Krankheit nennen. "Disease" meint das Konzept der Krankheit, wie es in Lehrbüchern beschrieben wird. Krankheit wird jedoch von den Leiden der Menschen bestimmt. Die Bedeutung, die das Leiden für den einzelnen Kranken und sein Umfeld hat, wird im Englischen durch den Begriff "Illness" erfasst, "Sickness" beinhaltet zusätzlich die soziale Komponente, den Umgang von Familie und Freunden mit dem Leid und dem Leidenden.

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass der Arzt herausfindet, was Patienten wirklich bedrückt, wenn sie nicht massiv leiden, aber trotzdem nach einer Krankschreibung fragen. Oft zeigt ein höherer Krankenstand an, dass in einer Abteilung die Stimmung mies ist oder sich der neue Vorgesetzte als Pfeife erweist. Seit Jahren sinkt zwar die absolute Zahl der Krankmeldungen in Deutschland, aber Fehlzeiten aufgrund psychischer Belastungen nehmen zu. Diese muss man ernst nehmen; hier hilft auch keine teilweise Arbeitsunfähigkeit.

Für die anderen Befindlichkeiten im Graubereich zwischen krank und gesund gilt hingegen: Die Anforderungen im Beruf sind unterschiedlich, jene an das Leistungsvermögen auch. Darauf kann man flexibel reagieren, ohne dass gleich die Erlaubnis bedroht ist, eine Krankheit in Ruhe auszukurieren.

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