Krankenkassen:Freikaufen statt abrechnen

Versicherte mit geringem Einkommen können sich nach Erreichen einer Belastungsgrenze von Zuzahlungen, etwa der Praxisgebühr, befreien lassen. Jetzt stellen einzelne Krankenkassen vorab Befreiungsausweise aus. Die Kassenärztliche Vereinigung ist empört.

Von Melanie Zerahn

Krankenversicherungen wie die AOK, die Barmer oder die Siemens Betriebskrankenkasse (SBK) bieten seit Januar 2005 ihren Kunden die Möglichkeit, Befreiungsausweise für Zuzahlungen schon am Anfang des Jahres zu beantragen.

Zuzahlungen, dpa

Seit Januar diesen Jahres ist es möglich, schon vorab Ausweise für die Befreiung von Zuzahlungen, wie etwa der Praxisgebühr, zu beantragen.

(Foto: Foto: dpa)

Das verstoße gegen die Lenkungsfunktion, findet die Kassenärztliche Vereingung und will die Ausweise verbieten lassen.

Die Krankenkassen können indes die Aufregung nicht verstehen: "Was macht es für einen Unterschied, ob jemand rückwirkend oder vorab befreit wird?" fragt sich eine SBK-Sprecherin. "Die Ärzte haben sich über hohe Mahnkosten bei säumigen Patienten beklagt. Insofern müssten sie eigentlich fordern, dass möglichst viele Kassen Befreiungsausweise ausstellen."

Kein Sammeln von Quittungen mehr

Bisher musste der Versicherte Quittungen und Belege gezahlter Praxisgebühren und Medikamente sammeln, um anschließend mit der Krankenkasse abzurechnen. Zuzahlungen mussten sie dabei bis zu einer individuellen Belastungsgrenze selbst tragen. Diese Grenze liegt bei zwei Prozent des jährlichen Bruttoeinkommens, bei chronisch kranken Menschen bei einem Prozent. Die Belastungsgrenze wird jedes Jahr neu berechnet.

Erst wenn im Laufe eines Jahres die persönliche Belastungsgrenze erreicht wurde, erhielt der Versicherte einen Befreiungsausweis. Für den Rest des Jahres musste er dann keine Zuzahlungen mehr leisten.

Die neue Regelung soll den Patienten entlasten. "Für den Versicherten wird es einfacher und flexibler - er spart eine Menge bürokratischen Aufwand," sagt Bendrich.

Vorschuss an die Krankenkasse

Allerdings ändert sich an der Prozentregelung durch den Befreiungsausweis nichts. Daher muss der Versicherte den Sockelbetrag der Eigenleistung in jedem Fall an die Krankenkasse zahlen - und zwar als Vorleistung für ein Jahr. "Erst anschließend wird der Ausweis ausgestellt," gibt Annette Kurth von der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin zu bedenken. "Der Versicherte kauft sich sozusagen frei."

Der Kreis der Personen, die von diesem Angebot profitieren, ist deshalb begrenzt: "Nur Versicherte, die sehr früh ihre Zuzahlungsgrenze erreichen, haben ein Interesse daran, der Krankenkasse vorab einen Vorschuss zu bezahlen," sagt ein Sprecher der Barmer, "das betrifft vor allen Dingen ältere Menschen oder chronisch Kranke."

Doch die AOK stellte immerhin bereits 140.000 Ausweise aus - das ist fast die Hälfte derer, die überhaupt einen Anspruch auf Befreiung haben. Ein Sprecher bestätigte, dass das "Modell bei unserern Kunden gut ankommt".

"Lenkungsfunktion entfällt"

Die Kassenärztliche Vereinigung sieht in der Vorabbefreiung einen klaren gesetzlichen Verstoß: "Mit den Zuzahlungen und der Praxisgebühr sollte die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen gesteuert werden," sagt die Sprecherin der Kassenärzte-Vereinigung. "Diese Lenkungsfunktion fällt nun völlig weg." Überdies sei es "für sozial Schwache erfahrungsgemäß schwierig, die Summe in einem aufzubieten".

Laut Bundesversicherungsamt verstößt das Vorgehen der Krankenkassen allerdings nicht gegen die rechtlichen Vorschriften. "Wir werden die Verfahrensweise grundsätzlich aufsichtsrechtlich nicht beanstanden," heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme. Der Versicherte müsse allerdings "bestätigen, dass sich gegenüber der vorherigen Antragstellung keine Änderungen ergeben haben."

Befreiungskarten anderen Typs hatte es auch schon vor der Gesundheitsreform gegeben. Dabei wurden bestimmte Personengruppen, etwa Arbeitslose oder Bafög-Empfänger vollständig von Zuzahlungen befreit. Dies ist heute nicht mehr möglich. Vorgesehen ist nur noch eine teilweise Befreiung ab Erreichen einer Belastungsgrenze.

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