Kranke Politiker:Vom gut gehüteten Geheimnis zum Gesundheits-Liveticker

Sternsinger bei Bundeskanzlerin Merkel

Bundeskanzlerin Merkel braucht wegen ihrer Ski-Verletzung momentan eine Gehhilfe.

(Foto: dpa)

Eigentlich sollen Politiker ja Kraft und Energie ausstrahlen. Wenn Krankheiten dieses Bild bedrohen, wurde die Bevölkerung früher möglichst im Unklaren gelassen. Heutzutage erfährt die Öffentlichkeit von jedem Zipperlein der Mächtigen. Und das ist auch gut so.

Von Christina Berndt

Der Kanzlerin steckte der Schrecken selbst noch in den Knochen, da wusste schon ganz Deutschland von dem Malheur, das ihr im Schnee passiert war. Zunächst hatte Angela Merkel noch gedacht, sie habe sich bei ihrem Sturz nur eine Prellung zugezogen, doch am Freitag vergangener Woche teilte ihr ein Arzt mit: Infraktion. Der Beckenknochen war angebrochen. Die nächsten drei Wochen sollte sie besser im Liegen verbringen.

Die Diagnose gab Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag umgehend ans Volk weiter. Es handele sich um eine "schwere Prellung verbunden mit einem unvollständigen Bruch im linken hinteren Beckenring", erläuterte er und betonte zugleich: Die Kanzlerin sei aber "handlungsfähig und kommunikationsfähig" und längst wieder am Arbeiten. Die Medien nahmen das Thema begierig auf. Deutschland bekam kurz darauf einen Intensivkurs über die Anatomie des menschlichen Beckens.

Gut so? Längst werden öffentlich nicht mehr nur schwerwiegende Leiden von Promis und Politikern thematisiert, sondern auch ihre Zipperlein. Dahinter steckt gewiss die Lust am Klatsch - seht her, unsere Obersten, auch nur Menschen! Doch zugleich bewegt das Volk zu Recht die Frage nach der Handlungsfähigkeit der Regierenden: Nur bekennende Anarchisten sehen ihr Land gerne führungslos, sollte der Regierungschef für längere Zeit etwa wegen eines schwerwiegenden Krebsleidens krankgeschrieben sein oder gar im Koma liegen.

Und niemand möchte eine Persönlichkeit am Schalthebel für Atomwaffen wissen, die über das für die Befähigung zum Chef übliche Maß an Psychopathie hinaus von einem solchen Seelenleiden befallen ist. Dabei gilt: Je größer der Nimbus von Kanzler, Präsident oder Premierminister, desto mehr scheint das Volk dessen gesundheitliche Defizite zu fürchten.

Der Körper des Präsidenten hat sakrale Züge

Besonders empfindlich reagieren bis heute die Franzosen auf Kratzer im Heldenlack ihres Monsieur le Président. Als der Radiosender France Info Anfang Dezember verkündete, François Hollande habe eine Prostataoperation im Jahr 2011 verschwiegen, schlugen die Wellen hoch. Zu gut im Gedächtnis war noch, dass der 1996 verstorbene François Mitterrand seinem Prostatakrebs zum Opfer gefallen war, den er den Franzosen mehr als zehn Jahre lang verheimlicht hatte. Sein Leibarzt hatte verharmlosende, irreführende Bulletins herausgeben.

Dabei wäre die schonungslose Veröffentlichung der präsidentiellen Defizite Pflicht gewesen: Nach dem überraschenden Tod von Präsident Georges Pompidou 1974, dessen Lymphdrüsenkrebs vom Élysée zuvor als "leichtes, aber schmerzhaftes Gefäßleiden" abgetan worden war, hatte es in Frankreich eine heftige Debatte darüber gegeben, was ein Präsident von seinem Körper preisgeben müsse. Schließlich wurde ein ärztliches Bulletin Pflicht, das regelmäßig über den Gesundheitszustand des Staatsoberhaupts unterrichten soll.

"Der Körper des Präsidenten" habe in Frankreich "sakrale Züge", befand die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der erste Mann im französischen Staat hat gesund zu sein oder wenigstens so zu tun. Wo käme die Grande Nation hin, wenn ausgerechnet der erste Mann im Staate Schwäche zeigen würde? Hollande sah sich denn auch zu einer baldigen Stellungnahme gezwungen: Er habe lediglich "wegen einer gutartigen Prostata-Vergrößerung ein paar Tage im Krankenhaus" verbracht, wiegelte der Élysée ab. Außerdem sei Hollande zum Zeitpunkt der Operation noch nicht Präsident gewesen.

Auch in Deutschland hat die Presse mitunter Krankenakten von Politikern als Enthüllungsstorys präsentiert. Das passierte zum Beispiel dem Linken-Chef Gregor Gysi, der zwei Herzinfarkte und seine Arterienverkalkung im Gehirn eigentlich für sich behalten wollte. Bild aber diagnostizierte öffentliches Interesse und druckte sogar ein Röntgenbild von Gysis Hirn ab.

Insgesamt ist das medizinische Outing durch die Medien hierzulande aber selten. Gesundheit wird weithin als Privatsache angesehen. Dabei hätte es mit ein bisschen böser Absicht noch viel mehr zu erzählen gegeben. Peter Struck etwa tarnte als Verteidigungsminister einen Schlaganfall im Jahr 2004 zunächst als Schwächeanfall und bekannte sich erst nach seiner Genesung zu dem lebensbedrohlichen Zustand.

Und Helmut Schmidt bekam schon 1981, als Kanzler, in einem medizinischen Geheimkommando einen Herzschrittmacher eingesetzt. Der war offenbar dringend nötig: In den Jahren zuvor hatten Mitarbeiter den Kanzler wiederholt bewusstlos vorgefunden. Der stets zerrissene Willy Brandt litt dagegen unter Depressionen. Mitunter war der SPD-Vorsitzende tagelang für niemanden zu sprechen. Dann zog er die Vorhänge zu. "Fiebrige Erkältung" hieß das offiziell - genauso wie im November 1978, als Brandt mit einem Herzinfarkt in eine Klinik gebracht wurde.

Öffentliche Körper

Im twitternden 21. Jahrhundert aber sind längere Auszeiten kaum mehr möglich, ohne dass dies dem interessierten Politpublikum auffallen würde. Noch dazu lässt sich vor Fernsehkameras selbst ein harmloser Beckenanbruch kaum verheimlichen. Man habe den Unfall der Kanzlerin auch deshalb verkündet, weil er nun einmal unübersehbar war, heißt es im Bundespresseamt. Schließlich musste Angela Merkel die Sternsinger Anfang Januar gestützt auf zwei silberglänzenden Krücken empfangen. Bevor sich Fernsehdeutschland zu sehr erschreckt, sollte ein Regierungssprecher also ein bisschen was erklären.

Ähnliche Gründe dürften auch andere Polit-Promis dazu bewegt haben, ihre Körper zum Medienthema zu machen. So erzählte SPD-Frontmann Frank-Walter Steinmeier von der Nierenspende an seine Frau und Johannes Rau von der Operation seines gefährlichen Aneurysmas, während er noch Bundespräsident war. Die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer, redet offen über ihre Multiple Sklerose. Und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble stellte sich auch aus politischem Kalkül im Stern der Frage: "Kann ein Krüppel Kanzler werden?"

Dass ein Krüppel so etwas kann, wollte Franklin D. Roosevelt den Amerikanern dagegen lieber nicht erklären. Die meisten, die ihn 1933 zum US-Präsidenten wählten, hatten keine Ahnung davon, dass Roosevelt zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als zehn Jahre lang auf einen Rollstuhl angewiesen war - ob infolge von Kinderlähmung oder eines neurologischen Leidens, ist bis heute unklar. Geschickt vertuschte Roosevelt die Lähmung seiner Beine; dass es noch kaum Fernseher gab, machte ihm die Sache leicht.

Insgesamt existieren nicht mehr als drei Fotografien, die ihn im Rollstuhl zeigen. Ablichten ließ er sich nur im Sitzen oder wenn er auf seinen stählernen Beinschienen stand. Und bei Auftritten hob sich der Vorhang erst, wenn der Präsident das Rednerpult bereits erreicht hatte. Auch seine zahlreichen weiteren Leiden - Bluthochdruck, Arterienverkalkung und Herzinsuffizienz - verbargen Roosevelt und sein Leibarzt effizient: Geschockt reagierte die Nation auf den "plötzlichen Tod" des Präsidenten am 12. April 1945.

Zu den bestgehüteten Geheimnissen der US-Geschichte gehörte auch der Umstand, dass der smarte, strahlende, vermeintlich kraftstrotzende John F. Kennedy im Grunde multimorbide war. Zu seinem Amtsantritt 1961 harrte er bei Minusgraden ohne Hut und Mantel stundenlang in der Kälte aus. Dabei hatte er zu diesem Zeitpunkt schon drei Mal die Letzte Ölung erhalten. Kennedy litt unter einer lebensbedrohlichen Stoffwechselstörung, dem Morbus Addison, weswegen er ständig Cortisol nehmen musste. Auch warf er jede Menge anderer Medikamente ein (Schmerz- und Schlafmittel ebenso wie Antidepressiva), wodurch sein Urteilsvermögen womöglich eingeschränkt war. Zeitweise beschäftigte Kennedy acht Ärzte zugleich.

Mehr Mut zur Körperschau

Die Öffentlichkeit erfuhr kaum etwas davon - erstaunlicherweise nicht einmal von seinen schweren Rückenproblemen. Dabei hatte sich JFK während des Wahlkampfs als Senatorenanwärter 1952 in Massachusetts noch auf Krücken gestützt. Später war es verboten, den Präsidenten mit Krücken zu fotografieren. Gesundheitlich ging es ihm da aber keineswegs besser, auch weil das Cortisol seine geschundenen Knochen noch mehr angriff. Neben orthopädischen Schuhen trug er ständig ein Stützkorsett - mit skurrilen Folgen: Das Korsett war der Grund dafür, dass Kennedy bei dem Attentat 1963 in Dallas nach dem ersten Schuss aufrecht im Wagen sitzen blieb.

Ob die Geheimniskrämerei wirklich nötig war? Womöglich hätte mehr Offenheit den Karrieren von Schmidt, Brandt, Kennedy und Roosevelt gar nicht geschadet. Der 34. US-Präsident Dwight D. Eisenhower verschwieg nicht, dass er während seiner ersten Amtszeit mit einem Herzinfarkt zusammenbrach. Noch unter dem Sauerstoffzelt sagte er seinem Sprecher, die Öffentlichkeit solle alles erfahren. Trotzdem wurde Eisenhower 1957 wiedergewählt.

Kranke und Behinderte an der Spitze müssen wirklich keine schlechte Wahl sein. Viele Politiker haben vielleicht unnötigerweise Angst vor dem Urteil des Volkes. Angst vor ihren Krankheiten haben sie oft weniger. Roosevelt ließ sich 1944, mitten im Krieg und todkrank, zum vierten Mal zum Präsidenten wählen. Für die USA womöglich nicht zum Schlechtesten: "Noch in hundert Jahren werden die Menschen Gott auf den Knien dafür danken, dass Franklin D. Roosevelt (in diesen Jahren) im Weißen Haus war", schrieb die New York Times mit reichlich Pathos in ihrem Nachruf.

Auch wenn man die Meldungen rund um das Kanzler-Becken albern finden mag: Mehr Mut zur Körperschau wäre gerade in der hohen Politik wünschenswert. Denn wenn Prominente offener mit ihren Einschränkungen umgehen, wird die negative Sicht auf Krankheit und Behinderung insgesamt abnehmen. Das heißt ja nicht, dass man gegen alle Vernunft siech im Amt bleiben muss wie Woodrow Wilson, der von 1913 bis 1921 US-Präsident war. In den letzten Monaten konnte er infolge mehrerer Schlaganfälle nicht mehr regieren. Außer seinem Arzt durften ihn nur noch seine Frau und seine Sekretärin sehen. Die Bevölkerung bemerkte nicht, dass sie in Frau Wilson erstmals eine Präsidentin hatte.

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