Kony2012-Aktionstag "Cover the Night" in Amerika:Aus dem Netz auf die Straße

Ihr Video über den Kriegsverbrecher Joseph Kony eroberte das Internet, nun ruft die Organisation Invisible Children zum Aktionstag auf. In ganz Amerika gehen junge Leute auf die Straße, um auf die Gewalt in Ostafrika aufmerksam zu machen. Die Kritik an Kony2012 stört sie nicht: Sie sind überzeugt, das Richtige zu tun und wollen beweisen, dass sie nicht nur den Like-Button drücken können.

Matthias Kolb, Washington

Ben Keesey hat keine Zeit zu verlieren. Den halben Nachmittag war der 28-Jährige mit Hochwasserhosen im Anacostia-Fluss gestanden und hatte mit einer Greifzange Unrat gesammelt. Ohne die riesige, unförmige Hose auszuziehen, wendet sich der Chef der umstrittenen Hilfsorganisation Invisible Children an die etwa 50 Aktivisten, die sich auf dem Pier versammelt haben. "Vielen Dank, dass ihr heute hierhergekommen seid. Dies ist nur einer von tausenden Kony2012-Events, die heute auf der ganzen Welt stattfinden. Wir zeigen allen, wer wir sind", ruft Keesey den jungen Leuten zu. Die Botschaft ist klar: Nur wer sich in seiner eigenen Nachbarschaft engagiert, kann Änderungen in der Welt einfordern.

Passersby walk under a projection that is part of the non-profit organization Invisible Children's 'Kony 2012' viral video campaign, in New York

In New York werfen Invisible Children's eine Videoprojektion an eine Hauswand.

(Foto: REUTERS)

Fast alle Aktivisten tragen rote T-Shirts mit dem Kony2012-Logo und sie klatschen begeistert nach jedem zweiten Satz. Für Keesey ist der Auftritt ein Heimspiel: Kritische Fragen sind hier nicht zu erwarten, man jubelt alle Zweifel weg. Seine Zuhörer sind fest davon überzeugt, dass es Invisible Children gelingen wird, den Druck auf die Weltgemeinschaft zu erhöhen, damit der ugandische Kriegsverbrecher Joseph Kony gefasst wird. Um dieses Ziel zu erreichen, wollen sie den selbst ernannten Propheten berühmt machen und deswegen hängen am Aktionstag "Cover the Night" junge Leute in aller Welt Plakate mit Konys Gesicht auf, verteilen Flyer und bringen Aufkleber an. Das halbstündige Video, das die kalifornische NGO am 5. März ins Internet gestellt hat, haben bislang mehr als 100 Millionen Menschen gesehen.

"Kony2012" erzählte die Geschichte von Jacob Acaye, einem ehemaligen Kindersoldaten aus Uganda, der von der "Lord's Resistance Army" (LRA) verschleppt wurde. Der 22-Jährige steht nun auf dem Pier in Washington. "Ich bin euch so dankbar, dass ihr euch dafür einsetzt, die Kämpfe in Zentralafrika zu stoppen", ruft der junge Mann. Er habe stets davon geträumt, Rechtsanwalt zu werden - und heute studiere er Jura.

"Wenn ihr wirklich an etwas glaubt, dann könnt ihr das schaffen", ruft Jacob. Der Satz geht im Jubel der Menge unter. Zu den klatschenden Aktivisten gehört Emily aus Utah, die seit zehn Wochen als Roadie durch Amerika fährt, um an Schulen und Colleges über Kony zu informieren und die Filme zu zeigen. Auch Sarah Palazzolo ist begeistert: Die 18-jährige Studentin hat sich mit Kommilitonen seit Wochen Jahren auf "Cover the Night" vorbereitet.

"Friedensgespräche bringen nichts"

Jeden Mittwoch trafen sich die Studenten zwischen 22 Uhr und Mitternacht in einem Seminarraum der American University in Washington und oft kreisten die Gespräche nur um ein Thema: Wie lässt sich Joseph Kony stoppen? Die Studentenorganisation "Fight Back/Rebuild" besteht aus zwei Gruppen: Mehrere Mitglieder wie Gründer Travis Roberts beschäftigen sich seit längerem mit den Verbrechen von Konys LRA. "Ich hatte 2006 den ersten Dokumentarfilm von Invisible Children namens 'Rough Cut' gesehen", erinnert sich der 20-jährige Politikstudent. Er vertiefte sich in das Thema, sammelte Spenden, traf andere Aktivisten und gründete zu Beginn seines Studiums die Menschenrechtsgruppe.

Die anderen Studenten erfuhren erst nach dem 5. März von den Verbrechen des Joseph Kony. Die 19-jährige Samantha Hogan erinnert sich noch an jenen Abend, als sie das heute so berühmte Video bei Youtube anklickte: "Als Kony2012 plötzlich überall bei Facebook auftauchte, war ich total verblüfft. Normalerweise würde ich mir kein 30-minütiges Video anschauen, doch dieser Film hat mich sehr berührt." Ihr sei sofort klar gewesen, dass sie ihre Freunde informieren müsse, damit dieses Thema nicht wieder vergessen werde.

Mehr können, als nur den Like-Button drücken

Vielen jungen Menschen ging es wie Samantha, doch die Journalistikstudentin wollte mehr tun, als nur einen Clip zu sharen, und so stand sie wenige Tage später in einem überfüllten Seminarraum, um mehr über Kony und "Fight Back/Rebuild" zu erfahren. Von den 50 Interessenten blieb ein gutes Dutzend Studenten übrig: Sie legten eine Facebook-Seite an, stellten einen Blog ins Netz und informierten bei mehreren Veranstaltungen über den seit 25 Jahre schwelenden Konflikt.

Dies ist Travis Roberts, dem Kopf der Gruppe, sehr wichtig. Der schlaksige Politik-Student mit den roten Haaren ist mit erst 20 Jahren schon ein erfahrener Aktivist. Er weiß, dass gerade bei Abgeordneten und deren Mitarbeitern nur dann Wirkung erzielt werden kann, wenn sich die Leute gut auskennen. Travis hält es für richtig, dass Amerika 100 Militärberater entsandt und die Afrikanische Union 5000 Soldaten mobilisiert hat, um Kony zu fassen.

"Einige Leute verstehen nicht, wieso Invisible Children eine militärische Lösung fordert. Sie wollen verhandeln, doch Friedensgespräche bringen nichts", sagt er voller Überzeugung. Dies sei vor fünf Jahren in Dschuba versucht worden, doch Kony habe die Zeit genutzt, seine Armee neu zu organisieren und mehr als 800 Menschen zu töten.

Travis, Samantha und die anderen Studenten wissen natürlich, dass Invisible Children in der Kritik steht und etwa der Kollaps von Filmemacher Jason Russell vielerorts mit Häme aufgenommen wurde. Journalisten und Wissenschaftler werfen der NGO vor, die gesammelten Spendengelder nicht effektiv einzusetzen, sich wahllos einen Warlord herausgepickt zu haben und den Konflikt vereinfacht darzustellen. So habe die Regierung in Kampala Kony lange toleriert und als Rechtfertigung für Missstände benutzt. Anders als im Video suggeriert, kämpft die LRA heute ums Überleben und besteht nur noch aus einigen hundert Kämpfern - Lonely Planet kürte Uganda gar zum Top-Reiseziel 2012. Doch diese Kritik scheint die jungen Studenten der American University fast motiviert zu haben: Sie hätten selbst Fakten zusammengetragen, um ihre Freunde besser zu informieren. Außerdem hat Invisible Children in ihren Augen gut reagiert: Sie haben vor zwei Wochen einen zweiten Film namens "Beyond Famous" online gestellt, der wichtige Informationen liefere.

"Wir müssen diesen Wahnsinn stoppen"

Den Vorwurf, mit Kony2012 wollten einige weiße Hipster die Welt verbessern, kann die 19-jährige Samantha nicht verstehen. Sie fühlt sich persönlich betroffen und klingt noch immer schockiert, wenn sie an die Verbrechen der LRA denkt: "Ich möchte nicht mitansehen müssen, wie jemand aus meiner Familie getötet wird. Man muss nur versuchen, sich vorzustellen, dass eine ganze Klasse von Grundschülern zu Kindersoldaten gemacht wird." Für Samantha und die anderen Studenten steht fest: "Wir müssen diesen Wahnsinn stoppen, weil wir alle Menschen sind. Das hat nichts mit Hautfarbe, Religion oder Ideologie zu tun."

Ben Keesey, der in den vergangenen Tagen in der US-Hauptstadt Lobbyarbeit gemacht hat, präsentiert einen weiteren Redner. Es ist Norbert Mao, der 2011 bei der Präsidentschaftswahl in Uganda für die Opposition angetreten war. Man habe "Beyond Famous" veröffentlicht, um zu zeigen, dass der Frieden "nicht aus San Diego" kommen könne, sondern von den mutigen Politikern in Afrika. Mao hält eine feurige Ansprache und lobt das Engagement der jungen Leute: "Ihr seid das Beste, was Amerika der Welt geben kann!" Der afrikanische Politiker blickt in strahlende Gesichter: Das Gefühl, etwas verändern zu können, ist neben der persönlichen Betroffenheit die wichtigste Motivation.

Nicht nur Sarah hat gelernt, dass Engagement nicht vergebens sein muss. Stolz berichtet die Studentin, dass sie am Montag die beiden Senatoren aus ihrem Heimatstaat Virginia sowie ihren Abgeordneten angerufen habe, um ihre Besorgnis über die LRA auszudrücken. "Ich habe in den letzten Monaten eines gelernt: Wenn 25 Menschen bei ihrem Abgeordneten anrufen und eine Nachricht zu einem Thema hinterlassen, dann wird der Politiker die Sache ernst nehmen. Diese Erfahrung gibt mir Mut, mich auch in der Zukunft zu engagieren." Über die Website der NGO The Resolve können innerhalb einer Minute Emails an die Abgeordneten verschickt werden - die Eingabe der Postleitzahl sorgt für die Auswahl der entsprechenden Politiker. Die Wirkung bleibt nicht aus: Am Donnerstag veröffentlichten die Senatoren John Kerry, Chris Coons und Jim Inhofe ein Video, in dem sie ausführlich erklären, wie sie sich seit langem für die Verhaftung des Kriegsverbrechers einsetzen.

Nach den Reden werden Dutzende Erinnerungsfotos gemacht, wobei Jurastudent Jacob von manchen Mädchen wie ein Popstar angeschmachtet wird. Eine Prognose, wie viele Menschen sich in Washington, Amerika und dem Rest der Welt am Aktionstag beteiligen werden, wagt bei Invisible Children niemand - überhaupt redet man ungern mit der Presse. Travis und die anderen Mitglieder von "Fight Back/Rebuild" bedrucken einige T-Shirts mit dem Kony2012-Logo, bevor sie ihr meterlanges Banner zusammenrollen, das sie in der Dunkelheit aufhängen wollen.

Engagement, auch wenn Kony gefasst ist

Bevor sie an das Ufer des Anacostia-Flusses gekommen waren, hatten sie in einer Kirchengemeinde mit Grundschulkindern gespielt und den Spielplatz aufgeräumt. Sie wollen künftig ein Mal pro Woche zum community service vorbei kommen.

Mit diesen Aktionen möchten die Studenten klar machen, dass es ihnen wirklich ernst ist und sie mehr können, als nur den Like-Button drücken, wie Travis mit feierlicher Stimme erklärt: "Wir wollen zeigen, dass es der Gemeinschaft, die sich rund um Kony2012 gebildet hat, um mehr geht. Es geht um Mitgefühl und Freundlichkeit und die wollen wir jeden Tag leben." Es gebe diesen Vorwurf, dass sich die jungen Erwachsenen heute auf nichts mehr konzentrieren könnten. Travis sieht dies ganz anders: "Wir werden beweisen, dass dies nicht stimmt - und uns auch dann weiter engagieren, wenn Kony gefasst ist."

Linktipp: Auf der Website des Wired-Magazins zeigt die Fotografin Glenna Gordon eindrucksvolle Fotos aus dem Alltagsleben in Norduganda - jener Region, die Joseph Kony einst terrorisierte.

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