Kontroverse um Böhmer-Äußerungen:"Böhmer beleidigt Frauen in Ostdeutschland"

Lesezeit: 3 min

Rücktrittsforderungen und parteiübergreifende Kritik - Wolfgang Böhmer, der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, hat mit Äußerungen zu den jüngsten Babymorden in den neuen Bundesländern eine heftige Kontroverse ausgelöst.

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) hat mit einem Erklärungsversuch für Kindstötungen im Osten heftige Empörung bis hin zu Rücktrittforderungen ausgelöst.

In einem Interview deutete Ministerpräsident Böhmer Kindstötungen im Osten als Folge einer "leichtfertigeren Einstellung zu werdendem Leben in den neuen Ländern". (Foto: Foto: dpa)

Böhmer sagte, die Vorfälle seien Folge einer übernommenen DDR-Mentalität. "Ich erkläre mir das vor allem mit einer leichtfertigeren Einstellung zu werdendem Leben in den neuen Ländern". Es komme ihm so vor, als sei Kindstötung für manche "ein Mittel der Familienplanung", sagte er dem Münchner Nachrichtenmagazin Focus.

Diese Einstellung halte er für eine Folge der DDR-Abtreibungspolitik. Frauen konnten dort nach 1972 bis zur zwölften Woche ohne jede Begründung die Schwangerschaft abbrechen. "Das wirkt bis heute nach", sagte Böhmer, der bis 1990 Chefarzt der Gynäkologie in Wittenberg war.

Politiker aller Parteien wiesen Böhmers Argumente zurück. Mehrere Grünen-Politiker forderten den Ministerpräsidenten daraufhin zum Rücktritt auf, weil er legale Abtreibungen und Kindstötungen auf eine Stufe stelle. Böhmers Vorgänger Reinhard Höppner (SPD) äußerte sich "entsetzt". Sachsen-Anhalts FDP-Vorsitzende Cornelia Pieper sprach von "Humbug". Kritik kam auch aus der CDU.

"Diese Frauen kommen mit den heutigen Verhältnissen nicht klar"

Grünen-Chefin Claudia Roth forderte seinen Rücktritt als Regierungschef. "Wolfgang Böhmer verunglimpft pauschal alle ostdeutschen Frauen und stellt Abtreibung auf eine Stufe mit der Ermordung von Kindern", sagte Roth der tageszeitung. "Frau zu sein und in der DDR gelebt zu haben, reicht ihm als Begründung für Misshandlung und Mord. Das ist absolut nicht hinnehmbar."

Böhmers Amtsvorgänger Reinhard Höppner (SPD) sagte der Zeitung: "Wer so über Menschen redet, für die er mitverantwortlich ist, kann seine Aufgabe als Ministerpräsident nicht mehr wahrnehmen. Ich bin entsetzt." Er wies darauf hin, dass es bei den diskutierten Fällen meist um sehr junge Mütter gehe. "Diese Frauen waren zur Zeit der Wende erst wenige Jahre alt. Da wirkt nicht die DDR-Mentalität nach, die kommen mit den heutigen Verhältnissen nicht klar."

Von einer abwegigen Debatte sprach Brandenburgs SPD-Fraktionschef Günter Baaske. "Böhmer beleidigt Frauen und Mütter in Ostdeutschland", sagte er der Märkischen Allgemeinen.

Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) sagte, der Bezug auf die DDR-Vergangenheit scheine ihm "im Jahr 18 Deutscher Einheit" zu reflexartig. Die Linksfraktion im Bundestag forderte stärkere Anstrengungen für eine kinderfreundliche Gesellschaft. Das sei besser als der Verweis auf die Vergangenheit, sagte die frauenpolitische Sprecherin, Kirsten Tackmann. Fraktionsvize Gesine Lötzsch sprach in der Frankfurter Rundschau von einer "völlig absurden Position".

Böhmer stieß auch in der eigenen Partei auf Kritik. Sachsens CDU- Generalsekretär Michael Kretschmer warf ihm vor, er rede Unsinn. Der Sozialexperte der CDU-Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt, Markus Kurze, sagte der Mitteldeutschen Zeitung: "Solch einer pauschalen Aussage muss widersprochen werden."

Die FDP-Chefin in Sachsen-Anhalt, Cornelia Pieper, sagte der Zeitung, es sei nicht bewiesen, dass es wegen der DDR-Vergangenheit im Osten Deutschlands mehr Fälle von Kindstötungen gebe.

Die FDP-Politikerin vermutet hinter den Äußerungen Böhmers auch einen indirekten Angriff auf die geplante Ausweitung der frühkindlichen Betreuung in Krippen. Böhmer gehöre einer Generation an, die "von liberaler und moderner Frauenpolitik" weit entfernt sei, kritisierte Pieper in der Thüringer Allgemeinen.

Böhmer: Ostdeutsche seien auf den Staat fixiert

"Ministerpräsident Böhmer disqualifiziert sich selbst", erklärte Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau in Berlin. Die Erklärungen für Missstände würden offenbar immer absurder: "Erst war das Topfen im Kindergarten schuld, dann die Kollektivierung der Landwirtschaft, nunmehr das Schwangerschaftsrecht zu DDR-Zeiten."

Böhmer rief die Menschen außerdem zu mehr Wachsamkeit auf. Viele Ostdeutsche seien zu sehr auf den Staat fixiert und gäben dadurch ihre individuelle Verantwortung auf. "Das stört mich sehr", sagte Böhmer. Zugleich forderte er stärkere staatliche Kontrollen, um "chronische Verwahrlosung" in Familien zu verhindern.

In einem Fernsehinterview relativierte Böhmer seine Aussagen. Er habe nur davon gesprochen, dass sich die Wertschätzung werdenden menschlichen Lebens verändert habe, sagte Böhmer dem MDR-Landesmagazin "Sachsen-Anhalt heute" nach dem parteiübergreifenden Unmut über seine Äußerungen. Darauf könnten die Begleitumstände in der ehemaligen DDR "möglicherweise" Einfluss gehabt haben. "Ich bin weit davon entfernt, für alle Fälle eine Erklärung zu suchen. Es ist völlig falsch, alles in einem bestimmten Zusammenhang erklären zu wollen", sagte Böhmer.

Vor knapp drei Jahren war der brandenburgische Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) mit einer ähnlichen Aussage heftig in die Kritik geraten. Mit Blick auf eine neunfache Kindstötung in Ostbrandenburg hatte er gesagt, für die Gewaltbereitschaft und Verwahrlosung im Osten seien die "Proletarisierung" und "zwangsweise Kollektivierung" unter dem SED-Regime verantwortlich.

Der renommierte Kriminologe Christian Pfeiffer hatte vor einer Woche auf Basis einer Untersuchung festgestellt, dass im Osten drei- bis viermal häufiger Kinder von ihren Eltern getötet würden als im Westen. Die Gründe für diese Unterschiede ließen sich nach seinen Angaben aber noch nicht ermitteln.

© dpa/afp/jkr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: