Konsumverhalten im Westen:"Sie sitzen in ihren kleinen Panzern und zerstören Natur"

stefan zeitz de 01 04 2017 Berlin Deutschland GER Yorkstrasse Ecke Mehringdamm rote Ampel SUV

Viele SUV fahrer denken: Mit einem SUV komme ich überall durch, ich trotze Starkregen und kann meine Kinder trotzdem noch sicher zur Schule bringen.

(Foto: imago/Stefan Zeitz)

SUV-Fahrer repräsentieren den rücksichtslosen Konsum unserer Gesellschaft, sagt der Politologe Markus Wissen. Auch Elektro-Autos seien keine Lösung. Nötig ist radikales Umdenken.

Interview von Matthias Kolb

Über Alternativen wird viel geredet zurzeit. Es geht um neue Politikansätze und andere Arten des Zusammenlebens. Weil das bestehende Wirtschaftssystem auf seinen Untergang zusteuere, fordert der Politologe Markus Wissen grundlegende Reformen. Er lehrt und forscht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) in Berlin zu sozial-ökologischen Transformationsprozessen und hat mit Ulrich Brand das Buch "Imperiale Lebensweise" (Oekom, 14,95 Euro) veröffentlicht. Sie stützen ihr Argument auf jenen Gegenstand, der gerade die Schlagzeilen bestimmt: das Auto. Das Interview gibt der 51-jährige von Dänemark aus, wo er gerade Urlaub macht. Angereist ist er mit dem Auto - geliehen von den Schwiegereltern.

SZ: Herr Wissen, Sie analysieren in Ihrem Buch "die Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus" und sprechen von einer "imperialen Lebensweise". Was ist damit gemeint?

Markus Wissen: Wir beschreiben Konsum- und Produktionsmuster, die vor allem in den Industriestaaten üblich sind und auf der überproportionalen Aneignung von Arbeitskraft und Natur in den Entwicklungsländern beruhen. Sie ermöglichen der Ober- und Mittelschicht ein gutes Leben; in geringerem Maße auch den Arbeitern. Diese Muster sind aber nicht verallgemeinerbar, weil sie auf Ausbeutung beruhen und die Lebensbedingungen von Menschen andernorts untergraben. Unser Konsum geht zu Lasten anderer. Der Begriff "imperiale Lebensweise" weist darauf hin, dass die Herrschaftsförmigkeit, die in den internationalen Beziehungen angelegt ist, in den Alltag eingeht. So wird sie normalisiert und zum Verschwinden gebracht.

Sie verwenden auch den Begriff vom "Food from nowhere". Was ist dieses Essen, das aus dem Nichts zu stammen scheint?

Der Agrarsoziologe Philip McMichael umschreibt so die Art, wie Lebensmittel etwa im Supermarkt präsentiert werden. Das Positive wird betont, das Negative verdunkelt: Die CO₂-Emissionen, die bei Produktion und Transport entstehen, werden auf den Preisschildern nicht ausgewiesen. Auch die Umstände bei der Ernte werden ignoriert: Neben der Natur werden ebenso Menschen ausgebeutet. Auf den Containerschiffen herrschen schreckliche Arbeitsbedingungen.

Bei der Lektüre fühlt man sich oft ertappt: beim eigenen Unwissen oder schlicht beim fehlenden Willen, sich über die Herkunft von Produkten zu informieren.

Das ist zentral. Wir reden bewusst nicht von "imperialistisch", obwohl das für uns weiter eine zentrale Kategorie ist. Mit "imperial" wollen wir zeigen, dass die imperialistische Weltordnung mit ihrer ökonomischen, militärischen und politischen Ungleichheit von Staaten nur funktioniert, weil diese Beziehungen im Alltag verankert sind. Wir denken nicht nach, wenn wir viel Fleisch konsumieren und fragen nicht, was die Herstellung kostet. Wir haben uns an diese Herrschaftsform gewöhnt.

Anders gesagt: Wir können uns diese Ignoranz leisten.

Ich sehe das eher als eine Sache der Alltagspraxis. Wir können nicht permanent beim Einkaufen fragen, welche Ressourcen für unsere Lebensmittel verbraucht wurden. Das funktioniert nicht. Wir profitieren von dieser Lebensweise, die sehr angenehm ist. Zugleich ist sie ein Zwang, sie ist in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingelassen, sodass uns nur begrenzte Wahlmöglichkeiten bleiben.

Je nach Alter mag dieser Konsum für Einzelne noch funktionieren, aber auf Kinder und Enkel wartet eine Welt, die immer lebensfeindlicher wird.

Entscheidend ist die Externalisierung. Wir geben die sozialen und ökologischen Kosten an ein "Außen" ab, wir verlagern sie in Zeit und Raum. Für die Zeit ist der Klimawandel das beste Beispiel: Wir im globalen Norden - also in Europa, den USA, Australien und Japan - spüren die Extremwetterereignisse bisher kaum; unsere Kinder und Enkel wird das stärker treffen. Externalisierung im Raum heißt, dass durch unsere Art und Weise des Produzierens und Konsumierens die Umwelt in den Entwicklungsländern zerstört wird. Dort nehmen etwa Dürren oder Überschwemmungen zu.

Ein Kapitel in Ihrem Buch dreht sich um die Automobilität und beschäftigt sich besonders mit den SUVs. Was fasziniert Sie so an diesen Monster-Autos?

Mein Co-Autor Ulrich Brand und ich sind leidenschaftliche Fahrradfahrer. Wir führen also jeden Tag in Berlin und Wien einen Kleinkrieg mit Autos und SUVs. Wir haben uns gefragt: Warum kaufen Menschen Autos, von denen klar ist, dass sie die Umwelt verpesten, andere gefährden und schon durch ihre Bauart die Rücksichtslosigkeit darstellen?

Welche Erklärung haben Sie?

Sport Utility Vehicles sind das ideale Symbol für die imperiale Lebensweise. Man zerstört Natur im Herstellungsprozess der Autos und auch in der Art, wie man sie nutzt, weil sie eben mehr Sprit brauchen. Zugleich empfindet man es als normal und auch als Anpassung an die zunehmenden Unsicherheiten. Das ist zumindest unsere These. Der Boom der Geländewagen findet ja parallel statt zum wachsenden Bewusstsein über Risiken des Klimawandels. Wie passt diese Sensibilität zur Nutzung eines Autos, das dies konterkariert? Viele denken wohl: Mit einem SUV komme ich überall durch, ich trotze Starkregen und kann meine Kinder trotzdem noch sicher zur Schule bringen. Dieses Verhalten ist faszinierend zu beobachten, aber zugleich sehr erschreckend.

Hier deutet sich eine "Eskalation nach oben" an. Die Insassen sind ja nur so lange geschützt, wie die anderen radeln oder einen Kleinwagen nutzen - und nicht, wenn alle plötzlich Geländewagen fahren.

Seit Jahren nimmt die Ungleichheit in Deutschland zu und wir wissen aus Studien, dass die Statuskonkurrenz in ungleichen Gesellschaften besonders stark ausgeprägt ist. Das betrifft die Reichen untereinander: Da wird man mit einem VW-Geländewagen belächelt, wenn alle Porsche Cayenne fahren. Aber natürlich gibt es diese Konkurrenz klassenübergreifend: Die Angestellten rüsten dann auf und kaufen womöglich billigere oder gebrauchte SUVs.

Die Motorleistung der Autos in Deutschland ist von durchschnittlich 95 PS im Jahr 1995 auf 140 PS angestiegen. Das ist nur einer der Widersprüche im Alltag der urbanen Mittelschicht: Man trennt Altpapier, aber auf Flugreisen will niemand verzichten. Wollen sich die Menschen belügen oder können sie nicht anders?

Ich sehe es da eher mit Karl Marx, der in den Feuerbach-Thesen schreibt, das Individuum sei ein "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse". Wir leben im Kapitalismus und sind also geprägt durch Konkurrenz und Gewinnmaximierung. Das Beispiel der Bio-Lebensmittel, die im Jutebeutel zum SUV getragen werden, ist daher vielleicht gar nicht so widersprüchlich. Es ist eine Form der privaten Nachhaltigkeit: Diese Menschen versorgen sich und ihre Familie mit gesunden Lebensmitteln und schützen sich vor den Gefahren der Automobilität, ohne selbst darauf verzichten zu müssen. Sie sitzen eben in ihrem kleinen Panzer.

"Die 'grüne Ökonomie' wird den Planeten nicht retten"

Sie betonen, nicht mit dem "moralischen Zeigefinger" wedeln und alle kritisieren zu wollen, die Autos besitzen oder Industrie-Fleisch essen. Die imperiale Lebensweise lasse sich kaum abschütteln, weil für viele Deutsche das Wirtschaftswunder identitätsstiftend war.

Das ist richtig. Automobilität war in ihren Anfängen Luxus, doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie zum Massen-Phänomen. In den Sozialwissenschaften sprechen wir vom Fordismus - der Name stammt von Henry Ford und ist damit Programm. Eine Ambivalenz gab es aber immer: Einerseits verschaffte der VW Käfer vielen Leuten zusätzliche Freiheit, aber andererseits wurden sie, darauf hat der französische Sozialphilosoph André Gorz hingewiesen, an ein kapitalistisch-konkurrenzorientiertes Verhalten gewöhnt. Dass Autofahren Konkurrenz bedeutet, kennt ja jeder, der auf Straßen unterwegs ist. Ich besitze kein Auto, aber wenn ich etwa im Urlaub das Auto meiner Schwiegereltern nutze, dann wird klar: Mitmenschen werden fast zu Gegnern und ich sehe die Welt anders.

Sie haben in Hamburg am Alternativgipfel teilgenommen, der parallel zum G-20-Treffen stattfand. Dort sagten Sie, dass der Kapitalismus durch China, Brasilien oder die Türkei nicht gezähmt werde. Hätten diese Schwellenländer nicht ein großes Interesse, die Umweltschäden zu begrenzen?

Entscheidend ist die Betroffenheit. 2015 sind in Mariana in Brasilien zwei Rückhaltebecken bei der Erzproduktion geborsten: Die Schlämme haben den Fluss Rio Doce verseucht und vielen Menschen die Lebensgrundlage geraubt. Das sind aber vor allem Arme, die Oberschicht stört das nicht, und der Bergbaukonzern Vale macht weiter Gewinne. Anders ist es mit China, wo die Mittel- und Oberschicht immer größer wird. Diese Leute spüren am Smog in den Städten täglich die Folgen des Wirtschaftswachstums. Auch um diese wichtige Klientel nicht zu verlieren, engagiert sich Peking zunehmend im Kampf gegen Umweltverschmutzung. Und sofern das bedeutet, verstärkt auf erneuerbare Energien zu setzen, ist es auch eine klimapolitische Maßnahme.

Sie schreiben, dass die imperiale Lebensweise gerade Opfer des eigenen Erfolgs wird, weil sie Exklusivität braucht. Diese schwindet aber, wenn es immer mehr Nachahmer wie China, Brasilien oder Vietnam gibt.

Der Schlüssel ist die Externalisierung: Je stärker sich der globale Süden industrialisiert, umso größer wird die Zahl der Staaten, die ihre sozialen und ökologischen Kosten anderen aufbürden wollen. Diese Lebens- und Wirtschaftsweise ist aber eben nicht verallgemeinerbar, denn es gibt eben nur eine Erde. Die großen Schwellenländer werden daher nicht nur ökonomisch, sondern auch ökologisch zu Konkurrenten der Industriestaaten.

Würde sich die Lage verbessern, wenn alle plötzlich mit Elektroautos fahren?

Die Elektromobilität steht für eine ökologische Modernisierung der imperialen Lebensweise. Sie täuscht vor, dass wir an unserer Lebensweise festhalten können. Es ist eine Illusion zu denken, dass man unsere Gesellschaft so zukunftsfähig machen kann. Die "grüne Ökonomie" wird den Planeten nicht retten.

Warum soll das nicht funktionieren?

Bei Elektromobilität dreht sich alles darum, wie viel CO₂ die E-Autos ausstoßen. Wenn sie mit Ökostrom betrieben werden, dann emittieren sie nichts. Aber: Es wird schwer, die komplette Pkw-Flotte auf E-Autos umzustellen und mit Ökostrom zu betreiben. In der Diskussion wird auch ausgeblendet, welche Unmengen an Strom und Ressourcen nötig ist, um die Fahrzeuge herzustellen. Die Abhängigkeit von Öl nimmt ab, aber jene von Metallen nimmt zu. Es ist wohl möglich, die Autos umweltverträglicher zu machen - aber in Zeiten, in denen sich zwei Drittel der Menschheit im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft befinden, sind viel grundlegendere Änderungen nötig. Es geht um mehrere Milliarden Menschen, die all das anstreben, was wir besitzen und verbrauchen.

Auch über eine Mobilitätswende wird kaum geredet. Die Verkehrsplanung bleibt ausgerichtet auf Erwerbstätige, die die Familie ernähren sollen.

In Berlin wird nun die A 100 weitergebaut. Wie kann man heute noch Stadtautobahnen erweitern, wenn dadurch neue Verkehrsströme entstehen? Stadtplanung ist sehr wichtig: In Vororte kommt man eben am bequemsten mit dem Pkw. Die kapitalistische Gesellschaft verdankt ihre Dauer auch einem historischen Kompromiss, der in ihren Anfängen keineswegs ausgemacht war: Die Arbeiter akzeptieren ihre Unterordnung unter das Kapital unter der Voraussetzung, dass sie an den Wohlstandssteigerungen beteiligt werden. Heute müsste man vielerorts fragen, ob sich Wohlstand nicht als Zeit definieren lässt. Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich könnte ein Einstieg in den Ausstieg aus dem kapitalistischen Wachstumszwang sein.

Mit Donald Trump ist jemand US-Präsident, der den Klimawandel leugnet und hierzulande steht eine Bundestagswahl an. Wäre jetzt nicht der ideale Moment für solche Diskussionen und warum finden diese kaum statt?

Der Ausbruch der Finanzkrise 2007/2008 wäre eigentlich ein Zeitfenster dafür gewesen. Das haben wir verpasst, nun hat sich der Neoliberalismus wieder erholt. Andererseits entstehen heute viele neue Ansätze: Etwa Volksentscheide zur Rekommunalisierung von Energieversorgung oder Initiativen zum Ausbau der Fahrradinfrastruktur. Auch in den Gewerkschaften gibt es Traditionen, an die angeknüpft werden könnte. In der IG Metall fragten sich in den Achtzigern die Arbeitskreise "Alternative Produktion", ob man mit den eigenen Kompetenzen nicht zugleich Arbeitsplätze sichern und sozial und ökologisch sinnvolle Produkte herstellen kann. In den späten Siebzigern debattierten Arbeiter in der Autoindustrie, ob es nicht besser wäre, anstatt Autos öffentliche Verkehrssysteme zu entwickeln. Diese Fragen sind heute dringlicher denn je.

Als Gegensatz zur imperialen Lebensweise plädieren Sie für eine "solidarische Lebensweise". Wie könnte diese aussehen und wie kommen wir da hin?

Es braucht sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Strategien. Dabei ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass der Staat keine neutrale Institution ist. Die Geschichte zeigt, dass viele Impulse aus sozialen Bewegungen kamen. Die heutigen Sozialversicherungssysteme wurden nicht einfach von klugen Politikern eingeführt, sondern sind das Resultat von sozialen Kämpfen. Die Energiewende ist ja nicht die Folge der Einsicht von aufgeklärten Hausbesitzern, die sich nun Solarzellen aufs Dach zimmern: Ihr gingen der Einsatz der Öko- und Anti-Atom-Bewegung voraus, die jahrzehntelang für Alternativen geworben haben. Was heute als selbstverständlich gilt, schien lange unmöglich.

Wie wichtig sind die Proteste gegen Freihandelsabkommen wie TTIP oder Ceta, die vor einem Jahrzehnt undenkbar schienen?

Diese Abwehrkämpfe sind sehr wichtig, auch für die Mobilisierung. Es geht auch darum, die imperiale Lebensweise zurückzudrängen und Freihandelsabkommen vertiefen sie. Entscheidend ist auch eine gemeinsame Erzählung, die den beteiligten Akteuren in aller Welt das Gefühl gibt, Teil eines großen Ganzen zu sein.

Dieser Narrativ fehlt bisher aber noch.

Das stimmt leider. Als Letztes muss es gelingen, dass diese Alternativen nicht immer wieder in Frage gestellt werden können. Es müssen also rechtliche Pflöcke eingeschlagen werden: Ich erinnere daran, dass die Menschenrechte erst nach sozialen Konflikten in Verfassungen verankert wurden. Das ist eine Errungenschaft der bürgerlichen Revolution. Hier dürfen wir aber nicht stehen bleiben. Wir müssen über die liberale Demokratie hinausdenken und demokratische Verfahren auf die Zentren gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Macht ausdehnen. Alle müssen die Möglichkeit haben, an den Entscheidungen, von deren Auswirkungen sie betroffen sind, gleichberechtigt mitzuwirken.

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