Konflikte und Gewalt:Kriminelle statt Krieger

In Somalia und anderswo: Die größte Gefahr für die Sicherheit geht nicht mehr von Staaten aus, sondern von Nicht-Staaten.

Erhard Eppler

Der Sozialdemokrat Erhard Eppler, 82, war Mitglied des Deutschen Bundestags und Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit von 1968 bis 1974. Die Grundwertekommission der SPD leitete er von 1973 bis 1992.

Konflikte und Gewalt: Erhard Eppler

Erhard Eppler

(Foto: Foto: AP)

Im Juni 2000, also vor mehr als acht Jahren, berichtete Le Monde diplomatique ausführlich über die wachsende Piraterie auf den Weltmeeren, nicht nur am Horn von Afrika. Demnach hatte ein "Büro für internationale Seefahrt" im Jahr 1994 immerhin 192 Akte der Piraterie registriert, fünf Jahre darauf waren es schon 285. Und eine private "Agentur für Sicherheit zur See" hatte ergänzt, das sei etwa die Hälfte der wirklichen Fälle, denn die andere Hälfte werde nie bekannt.

Und jetzt, 2008, erfahren wir, dass die meisten europäischen Regierungen, auch die deutsche, erst überlegen müssen, auf welcher Rechtsgrundlage man etwas gegen die Piraterie unternehmen könne, die im Nicht-Staat Somalia ihre Basis hat.

Seit dem Ende des Kalten Krieges beschäftigt sich die Wissenschaft mit dem Zerfall von Staaten, mit failing states, die langsam oder auch rasch zerfallen, und mit failed states, zerfallenen, nicht mehr existierenden Staaten. Wo Staaten zerbröseln, nimmt entstaatlichte, privatisierte Gewalt überhand, für die es kein Kriegsrecht, keine rechtlichen oder moralischen Grenzen gibt. Dazu gehört die Piraterie ebenso wie der Terror.

Der Ausdruck "Neue Kriege" für diese Gewaltausbrüche verwischt den Unterschied zwischen Krieg und Kriminalität genau so wie George Bushs "war on terrorism". Krieg hat mit Staat zu tun. Bürgerkrieg ist bewaffneter Kampf um die Macht im Staat.

Wo Warlords oder kriminelle Banden gar keinen Staat mehr wollen, sondern raubend, plündernd, vergewaltigend und mordend durchs Land ziehen und die Opfer, meist Frauen und Kinder, gar nicht mehr wissen, wer hier gegen wen kämpft - so war es im Kongo, wo es etwa tausendmal mehr Tote gab als am 11. September 2001 in New York und Washington -, da handelt es sich nicht um Krieger, sondern um Kriminelle.

Wer sie zu Kriegern erhebt, hat das staatliche Gewaltmonopol schon abgeschrieben. Daher sollten wir nicht von "neuen Kriegen", sondern von entstaatlichter, privatisierter und meist auch kommerzialisierter Gewalt sprechen.

Es waren Mörder am Werk, keine Krieger

War das jetzt in Bombay ein "neuer Krieg"? Es war organisierte, privatisierte und sicher auch kommerzialisierte Gewalt. Das Ziel eines islamistischen Gottesstaates konnten die Terroristen im überwiegend nicht-islamischen Indien kaum haben. Sie wollten den indischen Staat vorführen als einen, der nicht imstande ist, sein Gewaltmonopol durchzusetzen.

Wenn in Nigeria Hunderte von Menschen umgebracht werden, weil Christen und Muslime über ein möglicherweise manipuliertes Kommunalwahlergebnis in Streit geraten, ist dies kein Krieg, auch kein Religionskrieg, sondern ein Gewaltausbruch, den eine miserabel besoldete Polizei nicht verhindern konnte oder wollte. Da waren Mörder am Werk, keine Krieger.

Ausgerechnet jetzt, da Europäer sich durchringen, etwas gegen Piraterie zu unternehmen und sich in Indien oder Nigeria - und in anderer Weise auch in Thailand - zeigt, wie wenig sich Staaten gegen privatisierte Gewalt schützen können, publizieren der frühere Nato-Generalsekretär Lord Robertson und der frühere UN-Diplomat Lord Ashdown eine Studie über prekäre, wacklige Staaten. Gefahr, so heißt es da, drohe Ländern wie Großbritannien oder Deutschland nicht mehr von anderen Staaten, sondern von der entstaatlichten Gewalt, die überall dort freigesetzt wird, wo Staaten zerfallen.

Kriminelle statt Krieger

Mehr als 20 Staaten mit zusammen 880 Millionen Einwohnern, darunter übrigens auch Nigeria, bereiten durch ihren Zerfall privatisierter Gewalt den Nährboden. Die beiden Autoren verlangen radikales Umdenken. Was sie beschreiben, ist nicht neu. Aber wenn sie erklären: "Nicht Staaten sind die Gefahr, sondern Nicht-Staaten", horcht die britische Öffentlichkeit auf. Auch die deutsche?

In der Analyse sind sich Robertson und Ashdown einig mit dem jüngsten Bericht der US-Geheimdienste. Diese sagen voraus, es werde künftig "mehr Somalias" geben, mehr failed states. Wie kommt es, dass etwas, das spätestens zu Beginn unseres Jahrhunderts erkennbar war, erst jetzt in das Bewusstsein der westlichen Öffentlichkeit eindringt?

War es die marktradikale Ideologie, wonach es überall zu viel Staat gab, so dass es einfach nicht schick war, darüber zu reden, was zu wenig oder gar kein Staat bedeuten könnte? Oder war es die fatale Entscheidung des scheidenden US-Präsidenten, dem Terrorismus der Al-Qaida den Krieg zu erklären? Zu den vielen verhängnisvollen Wirkungen dieser Kriegserklärung gehört auch, dass der Terror, der New York und Washington traf, nie als Teil jener entstaatlichten Gewalt verstanden wurde, die jetzt auf einmal zum Thema wird.

Gewalt, die überall zuschlagen kann, aber nirgends zu treffen ist

Was heißt es, nun umzudenken? Vielleicht, dass die indische Regierung gut daran täte, nicht die pakistanischen Kollegen für den Terror in Bombay verantwortlich zu machen. Die müssen sich doch auf Ähnliches gefasst machen. Gibt es da nicht gemeinsame Interessen? Oder dass die neue Obama-Regierung begreift, warum mit militärischer Überlegenheit im 21. Jahrhundert nicht mehr viel zu erreichen ist.

Dass die perfektesten Waffen stumpf sind gegen eine Gewalt, die überall zuschlagen kann, aber nirgends zu treffen ist. Dass das letzte Wort nicht die Armee des Siegers hat, sondern die privatisierte Gewalt im Land des Besiegten. Dass Verbrecherjagd kein Krieg ist, dass hier zuerst Polizei und Geheimdienste zuständig sind und nur, wo sie völlig überfordert sind - zum Beispiel bei der Piraterie -, das Militär.

In Europa könnte man lernen, dass die EU und ihre Einzelstaaten sich um die wackligen Staaten kümmern müssen, dass sie europäisch abgestimmte, langfristige Gesamtkonzepte brauchen, die einen Aufbau der Wirtschaft verbindet mit der Stabilisierung der Institutionen, und zwar der zivilgesellschaftlichen und der staatlichen.

Wir könnten sogar zu einem ersprießlichen Verhältnis zu Russland finden, dem riesigen Land, das in den Neunziger Jahren nahe daran war, ein failing state zu werden, damals, als die Mafia beim Eintreiben von Schutzgeldern erfolgreicher war als die Finanzämter beim Einziehen von Steuern. Bis Putin dies änderte. Wir müssten nicht verschweigen, dass wir unter Demokratie etwas anderes verstehen als die Herrscher im Kreml. Aber wir müssten uns deshalb nicht in einen neuen Kalten Krieg treiben lassen gegen einen Staat, mit dem uns viele gemeinsame Interessen verbinden, auch die Bekämpfung der privatisierten Gewalt.

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