Konferenz in Évian:Zehn Tage im Hotel Royal

Schweiz; Flüchtlinge

Jüdische Flüchtlinge beim Übertritt in die Schweiz

(Foto: SZ Photo)

Bei der Konferenz von Évian soll 1938 die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge geregelt werden. Die Zusammenkunft endet mit Bankett und Feuerwerk - doch ohne Lösung. Ein Buch zeichnet nach, was damals passierte.

Rezension von Robert Probst

Die Konferenz dauert zehn Tage, die ganze Welt blickt in diesem Sommer 1938 auf die Vorträge der Teilnehmer. Es wird auch viel geredet im schönen Hotel Royal im Badeort Évian-les-Bains hoch über dem Genfer See. Doch der wirkliche Anlass der Konferenz wird praktisch nicht genannt. Der Name Hitler fällt offenbar nie, das Wort Jude kommt immerhin hie und da zu Sprache.

Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Konferenz von Évian die Aufnahme der etwa 500 000 Juden aus dem Deutschen Reich und aus dem soeben angeschlossenen Österreich zum Ziel haben sollte. Wie man weiß, hielt sich die internationale Staatengemeinschaft vor 80 Jahren vornehm zurück. Die Konferenz gilt als einer der beschämendsten Höhepunkte der Appeasementpolitik gegenüber Adolf Hitler. Doch die bitterste Wahrheit dieser Tagung im Luxushotel lautete: Die Emigrationswilligen waren nirgends erwünscht.

Bald nach der Machtergreifung 1933 hatte der NS-Staat mit der Diskriminierung der jüdischen Mitbürger begonnen, deren Auswanderung wurde akzeptiert - allerdings unter der Bedingung, dass sämtliches Vermögen zurückbleiben musste. Das Ziel der Nazis war es, die Juden als Bettler über die Grenze zu jagen, denn je ärmer der Einwanderer, desto größer die Last für das Gastland. Doch bis zu den Pogromen vom November 1938 zögerten ohnehin viele Juden mit der Ausreise aus ihrer Heimat. Bald danach war jedoch eine legale Auswanderung kaum mehr möglich.

Nach dem "Anschluss" Österreichs im März 1938 und den damit verbundenen antisemitischen Ausschreitungen sowie dem heraufziehenden NS-Terror hat US-Präsident Franklin D. Roosevelt eine internationale Tagung angeregt, um Möglichkeiten zur Hilfe für jüdische Emigranten auszuloten. Vom 6. bis 15. Juli beraten die Diplomaten aus 32 Ländern und Vertreter Dutzender jüdischer Hilfsorganisationen darüber.

Nur Australien spricht Klartext

Der Publizist Jochen Thies hat den Tagungsbericht passend zum bevorstehenden Jahrestag akribisch ausgewertet. In chronologischer Abfolge treten die Repräsentanten der Staaten auf, ihre Argumente und ihre mehr oder weniger ablehnende Haltung wird mit der Situation im jeweiligen Land abgeglichen.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch stellt der Verlag auf seiner Internetseite zur Verfügung.

In dieser Analyse liegt die Stärke des Buchs. Kaum einer der Diplomaten spricht ja Klartext, mit Ausnahme von Australien: "Da wir kein wirkliches Rassenproblem haben, verspüren wir auch keine Neigung, durch eine ausländische Masseneinwanderung eines zu importieren."

Die Argumente lauten meist: Wir sind ein dicht besiedeltes Land, wir sind in einer Finanzkrise, wir können eigentlich nur Landarbeiter gebrauchen, wir würden uns freuen, wenn die Neuankömmlinge viel Geld mitbringen würden.

Washington bleibt bei seiner isolationistischen Haltung

Die spätere israelische Ministerpräsidentin Golda Meir, die in Évian dabei war, schreibt in ihren Erinnerungen: "Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung."

Die meisten Länder, vor allem die aus Mittel-und Südamerika, haben gehofft, dass die USA sich stärker bewegen würden, doch Washington bleibt stur bei seiner isolationistischen Haltung und beharrt auf seiner seit 1932 gültigen Einwandererquote. Die Konferenz beschließt letztlich die Gründung eines zwischenstaatlichen Flüchtlingskomitees. Doch niemand lockert die Aufnahmebedingungen, keiner ist bereit, seine Einwandererquote zu erhöhen.

Am Ende triumphiert der "Völkische Beobachter"

Am 15. Juli endet die Zusammenkunft mit einem Bankett und einem prächtigen Feuerwerk. Der Völkische Beobachter kommentiert triumphierend: "Niemand will sie!" Die westliche Presse findet schnell heraus, dass Évian umgekehrt gelesen das Wort "naive" ergab. Die "Vorentscheidung über das Schicksal der deutschen Juden", so Thies, ist gefallen.

All das ist spannend geschrieben, nicht im wissenschaftlichen Duktus, und - leider - im Stil einer Geschichtscollage verwebt mit Hitlers Alltag und der Lebensgeschichte einiger jüdischer Protagonisten. Das erlaubt zwar die Einführung von Zusatzinformationen, doch der Fokus entfernt sich dadurch immer wieder aus dem Hotelsaal.

Und bei all dem ist natürlich die Verbindung zur aktuellen Flüchtlingskrise naheliegend - doch der Autor nennt sie "zwingend" und endet seine Geschichte mit essayistischen Überlegungen zu Migrationsproblemen dieser Tage. Es geht Thies, einst auch Redenschreiber von Helmut Schmidt, um die Botschaft, dass die Welt ihre Lektion aus Évian nicht gelernt hat, dass sich die Argumenten von damals und heute gleichen. Das alles ist richtig, doch der diplomatische Eiertanz von Évian spricht für sich.

Jochen Thies: Evian 1938. Als die Welt die Juden verriet. Klartext-Verlag Essen 2017, 200 Seiten, 18,95 Euro.

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