Kommentar:Wer im Computer lebt

Es liegt auch am Versagen der Eltern, wenn sich Jugendliche in virtuelle Welten zurückziehen - und dort ihre Verzweiflung zeigen und ihre Phantasien ausleben.

Cathrin Kahlweit

Tatort Emsdetten 2006: Der 18-jährige Sebastian B. hat sich vor seinem Amoklauf über Jahre im Internet verloren. Er surfte stundenlang am PC, spielte, mailte, suchte Rat, lebte dort seine Gewaltvisionen aus. Haben seine Eltern das gewusst, aber geschwiegen?

Kommentar: Eine Spielszene aus "Counterstrike"

Eine Spielszene aus "Counterstrike"

(Foto: Foto: dpa)

Tatort Erfurt 2002: Der Amokläufer Robert S. hat mehr oder minder im PC gelebt, vor allem in Ego-Shooter-Spielen, mit denen er das Töten übte. Seine Familie hat es gewusst, und sie hat resigniert geschwiegen. Von beiden jungen Männern war bekannt, dass sie ihre blutrünstigen Phantasien, aber auch ihre Verzweiflung nur im Netz zeigten. Die Frage nach dem Warum wurde erst hinterher gestellt.

Resignation scheint den Umgang mit der exzessiven Nutzung des Internets zu dominieren. Diese Welt der ungeheuren Möglichkeiten ist für viele kaum zu durchschauen: Da sind die Chatforen und PC-Spiele, die Millionen schillernder Webseiten, die zur Selbstdarstellung oder zum Voyeurismus verleiten; da ist auf der anderen Seite das immense Angebot an Wissen und Wissenswertem.

Hilferufe aus Schulen

Vor allem Schulen rufen immer lauter um Hilfe: "Kinder und Jugendliche im Internet - Gefahren, die keiner kennt", heißt eine Veranstaltung, die derzeit bayerischen Eltern angeboten wird; wegen "großer Hilflosigkeit" veranstaltete unlängst ein Berliner Gymnasium einen Abend zum Thema Internet.

Die Bilder gleichen sich landauf, landab: Da sitzen ratlose Erwachsene beisammen, die Spiele wie "Counter-Strike" vom Hörensagen kennen und nur ansatzweise wissen, was ein "offener Chatroom" ist, und berichten sich gegenseitig von ihrer Sorge, von Kindern, die Stunde um Stunde am Computer sitzen, immer schlechtere Noten nach Hause bringen, sich aus ihrem persönlichen Umfeld zurückziehen.

Psychologen und Polizisten, die zu Rate gezogen werden, schlagen vor, "den Computer auch mal auszumachen", mit den Kindern gemeinsam jugendgerechte Spiele zu spielen, begrenzte Computernutzungszeiten festzulegen und über die Gefahren zu reden; denn es drohen Realitätsverlust und Kontaktarmut.

Das ist eigentlich banal, Klippschule der Familienarbeit. Doch auch kritische Eltern fühlen sich schnell überfordert, technisch nicht ausreichend gewappnet, in diesem Bereich der Jugendkultur nicht zu Hause. Sie führen ihre Skepsis auf einen Generationenkonflikt zurück und trösten sich mit der Gewissheit, dass ihre Kinder am Computer fürs Leben lernen.

Die unübersichtliche, unkontrollierbare Welt des Internet verführt dazu, eine ganz einfache Erziehungsaufgabe nicht mehr zu erfüllen: nein zu sagen. Zwar werben Dutzende Ratgeber dafür, Grenzen zu setzen; doch der grenzüberschreitende Datenstrom wird wie eine Naturgewalt hingenommen.

Vielfältige Gründe

Die Gründe dafür mögen im wachsenden Verzicht auf Erziehung liegen; wer mag, kann das kulturpessimistisch oder stammtischgerecht als Schichtenproblem, als Sittenverfall werten. Aber die Sache ist komplizierter. Exzessive Computernutzung ist nicht nur das Problem einer bildungsfernen Unterschicht. Und die Resignation vieler Eltern lässt sich nicht simpel umdeuten in die Unlust, sich mit dem Nachwuchs zu beschäftigen.

Die Gründe liegen vielmehr in einer verlogenen Diskussion. Die medienpolitische Debatte dreht sich allein um die Gefährlichkeit einzelner PC-Spiele und die Frage, ob sie zu Gewalttaten verleiten. Tatsächlich sind die Kriterien, nach denen die freiwillige Selbstkontrolle für Unterhaltungssoftware auf die Indizierung blutrünstiger Spiele verzichtet, nicht nachvollziehbar.

Aber die Fokussierung auf einzelne Spiele bedeutet gleichzeitig den Verzicht auf grundlegendere politische und pädagogische Fragen. Wer diese stellt, gilt wahlweise als reaktionär, politisch inkorrekt oder uncool.

Untersuchungen belegen, dass insbesondere bei Jugendlichen zwischen 14 und 19 die Gefahr groß ist, in die Welt des PC ein- und aus dem realen Leben auszusteigen; 16 Prozent gelten als computersuchtgefährdet, 3,5 Prozent spielen mehr als 35 Stunden wöchentlich. Wer einen eigenen PC im Kinderzimmer hat, ist schlechter in der Schule, wer ausdauernd Computerspiele spielt, schafft es seltener aufs Gymnasium.

Wer viele Stunden in Chatforen kommuniziert, verlernt das direkte Gespräch. Wer in den Video-Welten fremder Leben surft, erlebt nichts mehr selbst. Mehr noch als ausdauernder Fernsehkonsum ersetzt die Virtualität des Netzes eigene Aktivitäten, eine eigene Identität.

Computersucht als Krankheit anerkennen

Warum aber erkennen Krankenkassen Computersucht nicht als Krankheit an? Warum wird zwar in den Kampf gegen Alkohol und Zigaretten, Übergewicht und Analphabetismus, nicht aber in die Aufklärung über die Gefahren exzessiver Computernutzung investiert? Warum interessiert sich die Forschung nur marginal für die Selbstaufgabe im Netz? Ein frustrierter Psychiater, der sich lange Jahre mit Online-Sucht befasst hat, stellt bedauernd fest, man habe sich an die Computer gewöhnt wie ans Autofahren. Aber auch Autofahren muss man lernen.

Nicht Spielehersteller, nicht Webmaster, nicht die Zwänge der modernen Welt sind schuld, wenn Jugendliche im Computer leben. Eltern, die das verhindern wollen, ziehen den Stecker. Damit bricht - nur - eine virtuelle Welt zusammen.

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