Kommentar:Rau gibt ein Beispiel

Kurt Kister

Der Bundespräsident hat mit der Unterzeichnung des Zuwanderungsgesetzes die richtige Entscheidung getroffen. Die Erklärung aber, mit der er sein Handeln begründete, wird über die Zeit von Johannes Rau hinaus ein Beispiel gebendes Dokument für seine Nachfolger bleiben. Rau hat klar, logisch und unbestreitbar dargelegt, warum die Rolle des Bundespräsidenten nicht darin bestehen kann, eine verfassungsrechtlich umstrittene Frage auf dem Wege der Unterzeichnung oder Nicht-Unterzeichnung eines Gesetzes zu entscheiden.

Man kann, sagt Rau, was die Art und Weise der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes im Bundesrat angeht, "in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht jeweils mit guten Gründen zu dem einen oder dem anderen Ergebnis kommen". Wenn die Lage aber so ist, dann muss in unserem politischen System das Bundesverfassungsgericht über die gültige Interpretation des Grundgesetzes entscheiden.

Dies ist nicht Sache des Bundespräsidenten und schon gar nicht die von Kanzler ("ordnungsgemäß zustande gekommen") oder Kanzlerkandidat ("kaltschnäuziger Verfassungsbruch") - zumal deshalb nicht, weil Letztere gleichmäßigen Anteil an dem schändlichen Zirkus in der Bundesratssitzung vom 22. März hatten.

Nun kann man sagen, dass die von Rau geradezu erbetene Anrufung des Verfassungsgerichts genauso stattfinden könnte und müsste, wenn der Bundespräsident seinen Zweifeln durch die Verweigerung der Unterschrift Ausdruck gegeben hätte. Gegen ein solches Handeln aber spricht der, wie es Rau ausdrückt, "Respekt vor der Kompetenzordnung des Grundgesetzes"- also vor dem Privileg der Verfassungsinterpretation durch das Karlsruher Gericht.

Aus guten Gründen gibt es keine ausformulierten Vorschriften über die Kriterien der Prüfung eines Gesetzes oder dessen Zustandekommen durch den Bundespräsidenten. Für seine Entscheidung hat sich Rau deswegen auf die "Staatspraxis" gestützt, die sich unter anderem aus dem Verhalten früherer Bundespräsidenten herleitet. Sowohl Karl Carstens als auch Roman Herzog haben die Nicht-Unterzeichnung von Gesetzen abgelehnt, weil sie einen "zweifelsfreien und offenkundigen" Verfassungsverstoß bei deren Zustandekommen nicht erkennen konnten.

Die Kardinalfrage lautet bis heute, ob die von den Brandenburgern Stolpe und Schönbohm im Bundesrat vorgeführte Ja-Nein-Ich-schweige-Kömödie als "einheitliche" Stimmabgabe des Landes gewertet werden konnte, wie sie Artikel 51 des Grundgesetzes im Bundesrat fordert. Da genau dazu die gültige Grundgesetzinterpretation fehlt, was allen Beteiligten im übrigen bewusst war, liegt eben auch kein "zweifelsfreier und offenkundiger" Verstoß gegen die Verfassung vor.

Was aber eindeutig vorliegt, ist ein Missbrauch des Bundesrats als Forum machtpolitisch und persönlich motivierter Kraftmeierei. Der Kanzler wollte das Gesetz um jeden Preis durch die Länderkammer bringen. Im Bundesratspräsidenten Klaus Wowereit fand er einen Erfüllungsgehilfen. Die Union verweigerte aus purer Konfrontationshaltung den durchaus möglichen Kompromiss.

Schon vor Beginn der Abstimmung war bis ins Detail bekannt, wie sie ablaufen würde. Dem CDU-Politiker Schönbohm war der Erhalt der großen Koalition in Brandenburg wichtiger als alles andere. Sein Ministerpräsident Stolpe (SPD) hat Schönbohms abgekartetes Spiel unterstützt. Hessens Roland Koch gab drehbuchgemäß in der Sitzung den Empörten; Kanzlerkandidat Stoiber beleidigte hinterher präventiv den Bundespräsidenten.

Rau hat dies alles in ungewöhnlich scharfen Worten, aber völlig zu Recht angeprangert; die Brandenburger rügte er namentlich. Auch für diesen Teil seiner Erklärung ist dem Präsidenten hohes Lob zu zollen. Die so oft beschworene politische Kultur in diesem Land und in diesem Wahljahr ist mittlerweile so verludert, dass Attacken auf den Bundespräsidenten, persönliche Herabwürdigungen politischer Gegner oder der gezielte Einsatz rassistischer Untertöne nicht unüblich sind.

Nach der skandalösen Bundesratssitzung scheinen manche, darunter auch Stoiber, aus der empörten Reaktion der Öffentlichkeit - und nicht nur der Medien - ein wenig gelernt zu haben. Andere, zum Beispiel Schönbohm, der seine Rüge für "nicht akzeptabel" hält, haben dies nicht getan. Dass die Union jetzt vors Verfassungsgericht zieht, ist ebenso richtig wie Raus Entscheidung. Die rechtliche Regelung der Zuwanderung ist auch ein legitimes Wahlkampfthema - allerdings nur, wenn sie nicht möllemannisiert wird.

Rau übrigens weiß sehr gut, warum er öffentlich gefordert hat, den Bundespräsidenten nicht in die parteipolitische Auseinandersetzung zu ziehen. In der Union sehen Rau viele als einen alten, moralisierenden Sozen. In der SPD gilt er nicht wenigen als der angejahrte Prediger, dessen Witze man jetzt nicht mehr anhören muss, weil man so selten ins Schloss Bellevue kommt.

Richard von Weizsäcker und Roman Herzog genossen in der politischen Klasse bislang einen deutlich besseren Ruf als Johannes Rau. Die politische Klasse irrt sich öfters. Rau hat an diesem Donnerstag exemplarisch gezeigt, warum dem Bundespräsidenten in unserer politischen Ordnung eine besondere Rolle zugemessen wird.

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