Kommentar:Patchwork-Politik

Auf den ersten Blick ist es ein Lehrstück des politischen Zynismus. Die Verhandlungsführer der beiden Volksparteien, die sich noch bis vor zwei Monaten mit Gift und Galle bespuckten und für nicht-regierungsfähig erklärten, haben sich auf ein Regierungsprogramm geeinigt. Sie steuern in die große Koalition.

Andreas Zielcke

Nicht dass Opportunismus, Machtgier und auch schierer Zwang der Wahlarithmetik nur eine geringe Rolle dabei gespielt hätten, wie die Verhandlungsführer der beiden Lager sich zusammengerauft und um Posten und Machtanteile gerungen haben. Doch mit Kategorien der Verächtlichkeit oder der bloßen Taktik kommt man dem politischen Prozess, dessen Abschluss jetzt beschlossen ist, nicht auf den Grund. Der politische Pragmatismus, der hier durchschlägt und voraussichtlich die künftige Regierung tragen wird, folgt einer Logik, die ebenso paradox wie folgerichtig ist.

Reichstag Herbst

Im herbstlichen Berlin hat der politische Pragmatismus durchgeschlagen

(Foto: Foto: dpa)

Was man zur Zeit in England mit Blairs sukzessivem Abstieg, in den Vereinigten Staaten mit dem Machtverlust von Bush und in Italien mit Berlusconi beobachtet, das gilt, wenngleich in stark abgeschwächtem Maß, auch für das Ende der Ära Schröder - nicht in Russland, nicht in Osteuropa, aber im Westen läuft das Regierungsmodell der herrscherlichcharismatischen Autorität, des populistischen Übertrumpfens und Überwältigens des politischen Gegners aus.

Regierungspolitik findet wieder auf triviale Weise ihre "Wege in die Realität", wie das Sonderheft von Karl Heinz Bohrers Merkur im September zeitgemäß betitelt war. Das ist weit mehr als nur eine Änderung des politischen Stils. Alles, was den pathetischen Verbesserungstrieb, den Richtigkeitsanspruch und moralischen Elan, den flamboyanten Auftritt, aber auch die Arroganz, Demütigungsbereitschaft und Monopolisierungssucht geprägt hat, weicht jetzt einer ernüchterten, defensiveren und verhandlungsbereiten Vorgehensweise.

Auch in Angela Merkel, die noch im Juli und August die Republik umkrempeln und ein neues Deutschland schaffen wollte, jetzt aber hinter Steuer-Prozentpunkten und reformpolitischem Kleingedruckten förmlich verschwindet, hat dieses Umschlagen vom epochalen Aufbruch zur schlichten Haushaltssanierung seinen auffälligen Ausdruck gefunden. Statt Umstürzlerin die Hüterin der Tagesordnung - ein wahrhaft kurzer Sommer der Revolution.

Volatile Gesellschaften

Das mag man belächeln, man mag sogar wegen des Fehlens einer mitreißenden, kräfte- und legitimitätsspendenden politischen Zielvorstellung an Merkels Regierungsteam regelrecht verzweifeln. Und doch hat die Reduktion auf das Nächstliegende auch einen stichhaltigen Grund. Jede Politik, die sich der wirtschaftlichen und sozialen Krise widmet, kann auf absehbare Zeit nur noch eine Gestaltung von Asymmetrien sein.

Keine politische Rezeptur schafft es noch, das immer dramatischere Auseinanderklaffen der Einkommens- und Vermögensverhältnisse zu verhindern, keine schafft es mehr, die zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft aufzuhalten, gar nicht zu reden von den Asymmetrien zwischen den reichen und den armen Ländern, von denen der gewaltige weltweite Umverteilungsdruck ausgeht. Nannte man früher nur Aktienkurse volatil, sind es jetzt Lebensläufe, ja ganze Gesellschaften.

Diese Asymmetrien werfen nicht nur die allfälligen Gerechtigkeitsfragen auf, sondern verwandeln die westlichen Gesellschaften in immer fragilere Konglomerate, auf deren zersplitternde Bestandteile längst keine politische Ideologie "aus einem Guss" mehr passt, wie es die Union eben noch erträumte.

Patchwork-Politik

Und darin liegt das Paradox der Politik in einer zentrifugalen Gesellschaft: Je konsequenter die Regierung das heterogene und fließende Gesamttableau der Probleme ernst nimmt, desto subtiler und kleinteiliger, aber auch widersprüchlicher und flüchtiger müssen die politischen Lösungsansätze sein. So gesehen ist eine Patchwork-Politik, die stets um ihren provisorischen und experimentellen Charakter weiß, die angemessene Antwort auf die Entwicklungsbedürfnisse der Gesamtgesellschaft.

Angela Merkel, Franz Müntefering

Anders als es hier den Eindruck hat, gehen Angela Merkel und Franz Müntefering künftig gemeinsame Wege

(Foto: Foto: dpa)

Das kann natürlich, auch wenn man noch so kompetent arbeitet, nicht dauerhaft gut gehen. Häufiger Stillstand oder sprunghafter Aktionismus und wechselnde Lobbyerfolge sind wahrscheinlicher, als allen lieb sein kann. Nie passt alles zusammen. Die betroffenen Gruppen schwanken zwischen Frustration und Hysterie, zwischen Zufriedenheit und Apathie; wiederkehrende "resignative Wechselstimmungen", wie sie Meinungsforscher vor der Wahl feststellten, sind erwartbare Folgen.

Das alles ändert nichts am rationalen Kern dieses muddling through, dieses Sich-Durchwurstelns, das sich jetzt in Berlin anbahnt. Denn die Alternative, der große politische Wurf, der in die Zukunft weist, eine Mehrheit anfeuert und für eine außerordentliche Wirtschaftsdynamik mobilisiert, ist wegen der unvermeidlichen sozialen Asymmetrien immer häufiger nur um den Preis brachialer Vereinfachungen und Benachteiligungen zu haben. Das spricht, solange die kollektive soziale Sensibilität noch funktioniert, dafür, dass die Halbwertszeiten solcher großen Würfe im Westen eher abnehmen, wenn sie überhaupt realisiert werden.

Wo bleibt die Sehnsucht?

Einer großen Koalition jedenfalls sind sie fast schon per definitionem verwehrt, eben weil sie in aller Regel nicht ohne die Exklusion nennenswerter Bevölkerungsgruppen auskommen. Was diesen sozialen Preis betrifft, sprechen die amerikanischen Verhältnisse noch immer die deutlichste Sprache.

Gleichwohl ist die Sehnsucht nach einer kraftvollen Vision, die über den engen realpolitischen Horizont Berlins hinausreicht und im Lande neue ökonomische und gesellschaftliche Energien freisetzt, gewiss nicht untergegangen. Aber wo ist diese Sehnsucht geblieben, die in den Sommermonaten den Wechsel zu der radikal gesonnenen schwarz-gelben Allianz fast schon garantiert zu haben schien? Warum ist sie nach der Wahl plötzlich wieder verstummt?

Das ist keine rhetorische, sondern eine soziologische Frage. Denn die Protagonisten jener marktradikalen politischen Vision sind hauptsächlich unter denen zu finden, die auf die staatliche Politik zugleich am wenigsten angewiesen sind. Es ist eine wirtschaftsstarke Elite, deren Herkunft, Ausbildung, soziales Netzwerk und Mobilität ihr eine ökonomische Souveränität verschaffen, die sie von den Vorteilen der schrumpfenden staatlichen Gestaltungsmacht am meisten profitieren, unter deren Defiziten aber am wenigsten leiden lässt.

Und dies ist eine weitere folgenreiche Asymmetrie, die keine Patchwork-Politik übergehen darf. So wenig, wie der soziale Staat es sich leisten darf, die Schwächsten hängen zu lassen, so wenig darf der politische Staat diesen entscheidungswichtigen Teil seiner Elite mental davonziehen lassen. Wie gesagt, es geht nicht ohne Widersprüche.

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