Kommentar:Masse und Ohnmacht

Der Aufstand der Schiiten im Irak könnte für die Pläne der US-Besatzer zur Katastrophe werden.

Von Rudolph Chimelli

Der Widerstand gegen die amerikanisch geführte Besatzung im Irak ist dabei, vom Kleinkrieg in einen Volksaufstand umzuschlagen. Waren es bisher Gruppen von Nationalisten, Islamisten oder letzten Saddam-Nostalgikern, die im so genannten sunnitischen Dreieck den Alliierten schmerzhafte Schläge versetzten, so sind die blutigen Zwischenfälle vom Sonntag Ausdruck einer Massenbewegung in der schiitischen Volksgruppe. Ihr gehören etwa zwei Drittel aller Iraker an, und sie hatte sich bisher überwiegend abwartend verhalten.

Die Schiiten sind alles andere als einheitlich organisiert. Motor der Volksbewegung ist der radikale Prediger Muktada al-Sadr, der von Anfang an jede Zusammenarbeit mit den Amerikanern abgelehnt hat. Jetzt ruft er dazu auf, nicht mehr bloß zu demonstrieren, sondern den Gegner zu "terrorisieren" - so wie dieser "Meinungen unterdrückt und das Volk terrorisiert und verachtet".

Al-Sadr ist erst etwa 30 Jahre alt. Theologischen Rang hat er nicht. Sein Ansehen beruhte allein darauf, dass er der Sohn des Gross-Ayatollah Mohammed Sadek Sadr ist, den Saddam Hussein 1999 ermorden ließ. Verschärfte Konfrontation führt fast immer dazu, dass die Radikalen Meinungsführer werden. Jeder Tote, der unter den Kugeln der Besatzer fällt, fördert die Solidarisierung der Gemäßigten mit den Opfern. Denn der Kult von Märtyrern gehört zum Wesen der Schia. Ohnehin wächst die soziologische Mehrheit der jungen Schiiten Sadr entgegen. Etwa 70 Prozent der Volksgruppe sind jünger als 20 Jahre, zwei Drittel von ihnen haben keine Arbeit.

Gefahr für den Zeitplan

Für den Zeitplan Amerikas wäre es eine Katastrophe, wenn der Aufruhr der Schiiten umfassend würde. Schon am Sonntag erfasste er nicht nur Sadr-City, das riesige schiitische Armutsviertel der Hauptstadt Bagdad, sondern auch die heilige Stadt Nadschaf, Kufa sowie das britisch besetzte Amara. Bislang waren die Briten von Angriffen weitgehend verschont geblieben. Es war ungeschickt, dass US-Verwalter Paul Bremer Sadrs Zeitung al-Hausa verbieten ließ und dass einer von dessen wichtigen Helfern verhaftet wurde.

Im schiitischen Süden des Irak hatten die Amerikaner relativ gute Karten. Saddam hatte nach dem Aufstand von 1991 blutig Rache genommen. Mindestens 50000 Schiiten wurden dabei getötet. Das Wort "Befreiung" klang in jenem Landesteil also nicht völlig hohl. Nun scheint dieser Trumpf verspielt zu sein.

Der gemäßigte Ayatollah Ali al-Sistani ermahnt seine Gefolgsleute, kühles Blut zu bewahren. Er möchte den Modus vivendi mit den von Amerika eingesetzten Übergangsbehörden erhalten. Doch auch er geht nicht davon ab, dass der Irak nach den Forderungen der Schiiten gestaltet werden soll. Für die Mehrheit der Schiiten muss sein Kurs glaubhaft bleiben, wenn Sistani sich gegen Sadr durchsetzen soll. Sistanis Politik entspricht der traditionell quietistischen Haltung der schiitischen Hierarchie im Irak. Aber sie braucht Erfolg, nicht eine dramatische Zuspitzung der Lage.

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