Kommentar:Im Stadium des Zerfalls

Die Verfassung setzt enge Grenzen für den Gebrauch der Vertrauensfrage. Heute sind sie erfüllt. Die rot-grüne Bundesregierung steckt in einer echten Krise und Schröders Gestaltungsmöglichkeiten sind völlig erschöpft.

Von Kurt Kister

Mitte Juni wird Bundestagspräsident Wolfgang Thierse ein Brief des Kanzlers zugehen, in dem der entscheidende Satz etwa so lauten wird: "Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, hiermit teile ich Ihnen mit, dass ich den Antrag nach Artikel 68, Absatz 1 des Grundgesetzes stelle."

Am 1.Juli wird Kanzler Gerhard Schröder dann das Misstrauen des Bundestages suchen, ohne dies mit einer Sachfrage, etwa der Agenda 2010, zu verbinden. Schröder wird eine so genannte "unechte" Vertrauensfrage stellen, weil sein Ziel darin liegt, die Abstimmung zu verlieren, um nach der daraus resultierenden Auflösung des Parlaments in die vorgezogene Wahl zu gehen.

Entgegen allen hanebüchenen Spekulationen wird Schröder nicht als Bundeskanzler zurücktreten und Franz Müntefering wird das bleiben, was er schon immer war: ein aufrechter Parteifunktionär ohne den Drang oder die Befähigung, Regierungschef zu werden.

Gestaltungsmöglichkeiten erschöpft

Zwei von Schröders Vorgängern im Kanzleramt, Willy Brandt und Helmut Kohl, haben im September 1972 beziehungsweise im Dezember 1982 ebenfalls die Vertrauensfrage gestellt, um sie zu verlieren und so zu Neuwahlen zu kommen. Der jeweilige Bundespräsident, dem es nach einer gescheiterten Vertrauensfrage obliegt, das Parlament aufzulösen, hatte in beiden Fällen befunden, die Prozedur sei verfassungsgemäß.

Allerdings hatte Karl Carstens 1982 deutlich mehr Bedenken als Gustav Heinemann 1972. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts regelte 1983 den Umgang mit dem Artikel 68. Zwar setzten die Richter enge Grenzen, aber dennoch machen sowohl der Wortlaut des Urteils als auch die politische Lage es sehr wahrscheinlich, dass Bundespräsident Horst Köhler den Bundestag nach der mutmaßlichen Mehrheit gegen Schröder auflösen wird.

Das Gericht nämlich befand, Voraussetzung für die Auflösung sei "eine echte Krise". Der Bundespräsident dürfe "seine eigene Beurteilung der politischen Gegebenheiten" nicht an die Stelle der Auffassung des Kanzlers setzen, wenn Letzterer zu der Überzeugung gekommen sei, seine politischen Gestaltungsmöglichkeiten seien bei den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen erschöpft. Beide Kriterien sind heute erfüllt, ja übererfüllt. Die rot-grüne Bundesregierung steckt in einer echten Krise und Schröders Gestaltungsmöglichkeiten sind völlig erschöpft.

Am deutlichsten werden Krise und Erschöpfung, wenn man sich den Zustand der SPD betrachtet. In diesem Jahr haben die Sozialdemokraten den Prozess der innerparteilichen Erosion hinter sich gebracht, sie sind jetzt ins Stadium des Zerfalls eingetreten. Weil ihr Vorsitzender Franz Müntefering eine ehrliche Haut ist, gibt er öffentlich zu, dass es ihm an der nötigen Autorität mangelt. Zu vielen Problemen findet man in der SPD alle Meinungen von entschiedener Zustimmung bis zu heftiger Ablehnung.

Täglich neue Gründe

Seit Schröders Befreiungsschlag ins Wasser nach der NRW-Wahl werden die widerstreitenden Meinungen voller Lust am eigenen Untergang auch wieder zu jeder Gelegenheit öffentlich geäußert. Prinzipiell gescheite Leute wie Ludwig Stiegler oder Gernot Erler verbreiten die größten Dummheiten und halten es auch noch für gewiefte Taktik, wenn sie auf den Bundespräsidenten eindreschen.

Ja, Horst Köhler ist im Vergleich zu etlichen seiner Amtsvorgänger ein politisches Leichtgewicht, den ein unappetitlicher Kuhhandel zwischen Merkel, Stoiber und Westerwelle ins Amt gebracht hat. Er ist von der Prägung ein Beamter, dem die Winkelzüge der Parteipolitik fremd sind. Aber er ist seit seiner Wahl der Bundespräsident und damit Inhaber des höchsten Amts im Staat.

Man darf seine Reden durchaus kritisieren. Wer aber die Person so plump attackiert, wie das Stiegler & Co. getan haben, schlägt blindwütig um sich und schadet der eigenen Partei mehr als allen anderen. Wenn die Sozialdemokraten vernünftig wären, würden sie jetzt Argumente dafür verbreiten, warum man die anderen nicht wählen soll. Stattdessen aber liefern sie täglich neue Gründe, die SPD nicht mehr zu wählen oder der Wahl fernzubleiben.

Es wird nicht mehr lange dauern

Die Grünen sehen diesem Treiben fassungslos und in Schreckstarre zu. Während viele SPDler schreien: "Werft uns in den Abgrund!", spüren Grüne bereits den Ruck des Seils, an dem Rot-Grün gemeinsam in die Tiefe stürzen wird.

Diese Koalition ist, auch im Sinne des Verfassungsgerichtsurteils von 1983, am Ende. Es ist grotesk: Ohne Gerhard Schröder hätte sie seit 1998 nicht regieren können, aber mit dieser SPD kann Schröder nicht mehr regieren. Diese Erkenntnis war jenseits aller Taktik das Hauptmotiv für Schröders in Wirklichkeit einsame Entscheidung, die Neuwahl zu suchen.

Noch ein Jahr unter den für ihn demütigenden Bedingungen wollte er sich nicht zumuten. Dies trieb ihn dazu, einen Entschluss zu fassen, den er ohne Rücksicht auf Verluste und ohne intensive Abwägung der Prozedur von seinem Majordomus Müntefering verkünden ließ.

Das war typisch Schröder: Handeln um des Handelns willen und zwar so, dass es alle überrascht und letztlich alle vergrätzt. Die SPD hat er gegen sich aufgebracht, die Grünen final verärgert und die Union phänomenal beflügelt. Es wird nicht mehr lange dauern.

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