Kommentar:Europas Verfassung

"Erträumen wir Europa!" - Eine verfassungsgebende Versammlung, zusammen gewürfelt aus Delegierten von 28 Nationen, soll dem alten Kontinent eine neue Konstitution geben, eine Art europäisches Grundgesetz schreiben.

Christoph Wernicke

(SZ vom 14.6.2030) - Es war ein schöner Vorsatz. Zu schön, um wahr zu sein. Oder, um jemals wahr zu werden: "Erträumen wir Europa!", rief Valéry Giscard dEstaing vor 16 Monaten aus. Da wollte Frankreichs ehemaliger Staatschef jenen 105 Frauen und Männern Mut zur Vision einhauchen für eine schier unmögliche Aufgabe: Eine verfassungsgebende Versammlung, zusammen gewürfelt aus Delegierten von 28 Nationen, sollte dem alten Kontinent eine neue Konstitution geben, eine Art europäisches Grundgesetz schreiben.

Dieses Werk hat Brüssels Konvent nun am Freitag, von wenigen Details abgesehen, vollendet. Der Traum Giscards, er ist - ausgeträumt.

In mehr als 460 Verfassungsartikeln haben Europas Konventionalisten eine neue EU entworfen, die klarer und begreifbarer als die alte ist. Das verdient Respekt. Denn das ist, mit viel Fleiß und Redlichkeit ausgehandelt, gemessen am miserablen Status Quo allemal ein großer Erfolg.

Und doch beschreibt eben der Komparativ das Problem. All die Lobpreisungen, die ob des jetzt errungenen "europäischen Fortschritts" erschallen, sie klingen schal. Irgendwie ähnelt dieser Jubel jenen tumben Losungen, die einst Parteibonzen im real existierenden Sozialismus pflegten: Ja, alles wird besser. Nur, wann endlich wird es gut?

Der Vergleich mit Betonköpfen der untergegangenen DDR etwa ist unfair. Im Kern ist er sogar schlicht falsch. Denn anders als etwa das starre Sowjetreich ist Europas Union ein offenes, ein lernfähiges System. Genau das hat das Experiment des Konvents ja bewiesen.

Nachdem die 15 EU-Regierungen zweimal (1997 in Amsterdam, 2000 in Nizza) mit ihren Versuchen jämmerlich gescheitert waren, Brüssels brüchige Fundamente neu zu gießen, gewährten sie nun Gedankenfreiheit - und ließen endlich andere mit ran.

Diesen Neulingen, den nationalen und europäischen Abgeordneten, ist es vor allem zu verdanken, dass der Konvent den vielleicht besten Kompromiss seit den EWG-Verträgen 1957 in Rom zustande gebracht hat.

Giscard ist nicht Franklin

Aber es ist und bleibt eben ein Kompromiss. Giscard erlag einem naiven, ja unhistorischen Irrtum, als er sich für Brüssels Konvent im Jahr 2003 ausgerechnet jene Philadelphia Convention zum Vorbild wählte, wo 1787 per Federkiel die Verfassung der USA geschrieben wurde.

In keinem halbwegs seriösen Geschichtsbuch wird der ehrgeizige Franzose als "der Benjamin Franklin Europas" auftauchen. Nicht, weil nun mehr denn je feststeht, dass es die "Vereinigten Staaten von Europa" niemals geben wird. Sondern weil dieses Konklave der Alten Welt nie eine reelle, mithin realpolitische Chance hatte, eine wirkliche Neugründung der EU zu vollziehen.

Das hätten, das haben die wahren Herren Europas, die Vertreter der nationalen Regierungen, nicht zugelassen. Diese vereidigten Bedenkenträger saßen stets wachsam im Saal. In der Schlussphase der Verhandlungen verteidigten sie in Brüssels Hinterzimmern lieber nationale Besitzstände, als dass sie Lösungen mittrugen, die Europa als Ganzes so dringend benötigt hätte.

So springt Europa nach vorn - und doch zu kurz. Alles wird besser. Aber dem Konvent ist es letztlich nicht gelungen, seine drei großen, selbst gesteckten Ziele zu erreichen: Ein für seine Bürger begreifbares Europa zu schaffen, dass zugleich - in seinem Innern und draußen in der Welt - handlungsfähig ist.

Und das obendrein seinen eigenen, demokratischen Mindeststandards genügt. Am ehesten haben die Konventionalisten noch die erste Aufgabe gemeistert.

Die neue Verfassung ordnet Europa klarer und verständlicher als alle vorangegangenen Verträge. Erstmals können die Menschen schwarz auf weiß nachlesen, welche rechtsverbindlichen Grundrechte sie gegenüber Brüssel haben.

Und wer eigentlich was genau macht in der EU. Mit dieser Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen den 25 Staaten und der Zentrale in Brüssel erfüllt Europa eine alte Sehnsucht der deutschen Bundesländer - auch wenn diese Erkenntnis noch nicht zum bayerischen Landesfürsten vorgedrungen ist.

Brüssel wird einfacher, viele Juristen werden das beklatschen. Aber alle Oberprimaner Europas, denen Giscard noch vor Monaten einen lesbaren Text versprochen hatte, werden das Dokument hassen lernen.

Die Fesseln der Souffleure

Allenfalls die halbe Strecke bewältigte der Konvent bei seinem Versuch, den Weg zu einer handlungsfähigen EU zu ebnen. Diese Verfassung soll demnächst 25 oder mehr Nationen zusammen halten und lässt es gleichwohl weiterhin zu, dass ein einziges Land wichtigste Entscheidungen per Veto blockieren darf.

Das gilt nach innen, ob beim Kampf gegen unfaires Steuerdumping oder bei der Verfolgung internationaler Verbrecherbanden, wie nach außen. Das neue Amt des EU-Außenminister mag zwar suggerieren, der Kontinent könne fortan mit einer Stimme in der Welt sprechen.

Doch diese Person wird, da London jede Mehrheitsentscheidung über des Kontinents Wille in der Welt verbietet, von 25 nationalen Souffleuren gefesselt sein. Niemand will, um es mit Tony Blair zu sagen, einen europäischen Superstaat. Aber auch die "Supermacht Europa", von der der Brite gern salbadert, gibt es so nicht.

Und die Demokratie? Davon redet die Verfassung viel und gern, gleich im ersten Satz ihrer Präambel wird die Volksherrschaft beschworen.

Tatsächlich erhält das EU-Parlament mehr Rechte den je. Die Straßburger Volksvertreter dürfen künftig nicht nur mitreden, sondern sogar mitentscheiden, sobald es um die Verteilung von Agrarzuschüssen oder um eine gemeinsame Grenzpolizei geht. Doch müssen die bald 450 Millionen Europäer weiter rätseln, warum sie eigentlich zur Europawahl gehen sollen.

Denn ihre Stimme entscheidet allenfalls sehr indirekt darüber, wer der nächste oder übernächste Chef von Brüssels Kommission sein wird. Statt dessen bauen die Staats- und Regierungschefs ihre Gipfeltreffen nun zur zentralen, omnipotenten Instanz aus. Und sie schaffen sich mit ihrem neuen "EU-Präsidenten" einen Statthalter, der das labile Gleichgewicht der Macht in Europas Hauptstadt zu Lasten aller anderen kippen wird.

Als Trost bleibt - typisch europäisch - die Hoffnung auf die Zukunft. In mehreren Artikeln lässt die EU-Verfassung mehr Effizienz, auch mehr Demokratie zu - später, viel später. Eine Hintertür in der neuen Ordnung führt etwa zu einem (dann von den Völkern gewählten) Kommissionschef, der (vielleicht) auch den Tafelrunden der Regierungschefs vorsitzen darf.

Oder jenes sehr bescheidene Geschenk, das Giscard zuletzt Europas Bürgern überreichte: Die dürfen, als Akt direkterer Demokratie, Brüssel per Bürgerbegehren zum Handeln tragen.

Zuvor jedoch muss Europas konventionelle Weisheit noch einen Härtetest bestehen. Bis zum Frühjahr nächsten Jahres wollen die EU-Regierungen prüfen, ob sie diese Wendung zum Besseren mittragen. Mehr als der Konvent können sie nicht erreichen. Sicher, diese Verfassung erfüllt keine Träume. Aber es wäre ein Albtraum, würde Europa selbst dieses Grundgesetz entzogen.

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