Kommentar:Eine Brille für Ulla Schmidt

Alle klagen über die Gesundheitsreform; dabei gibt es gar keine: Kurz vor Weihnachten blickte die Neue Züricher Zeitung nach Berlin und stellte fest, die Bundesregierung habe diesen großen Sanierungsbrocken in den Sozialsystemen noch gar nicht angepackt.

HEIDRUN GRAUPNER

Spinnen die Schweizer? Sind sie taub und blind? Im vergangenen Jahr ebenso wie in den ersten Tagen des neuen Jahres ist über kaum etwas anderes mehr diskutiert und geschrieben worden als über die am 1. Januar in Kraft getretene Gesundheitsreform.

Ärzte und Patienten regen sich über die Praxisgebühr auf, über gestrichene Kassenleistungen wie Brillen oder Krankenfahrten mit dem Taxi, und über all die Unklarheiten, die jede Gesetzesänderung mit sich bringt, über all die Details, die sie in den ersten Tagen des neuen Jahres zu spüren bekamen, sei es durch mehr Verwaltungsaufwand, sei es am eigenen Geldbeutel.

Dennoch, die Schweizer haben Recht. Die Bundesregierung und ihre Gesundheitsministerin haben den großen Brocken Gesundheitsreform nicht wirklich angepackt; die Reform ist ein Reförmchen und dieses besteht in kaum etwas anderem als: Sparen.

Ulla Schmidt verbreitet zwar seit dem 1. Januar unaufhörlich Optimismus über die Segnungen des Gesetzes. Doch es zeigt sich schon jetzt, dass es ein fataler Fehler war, die große Reform zu verschieben und die Einnahmen der Krankenkassen, sei es mit einer Bürgerversicherung, sei es mit Kopfpauschalen, nicht auf eine neue Grundlage zu stellen.

Angesichts der unverändert hohen Arbeitslosigkeit brechen den gesetzlichen Kassen nach wie vor die Einnahmen weg, dabei spielt die demographische Entwicklung bisher noch gar keine entscheidende Rolle. Die Kassen-Defizite im Jahr 2003 betragen voraussichtlich fünf bis sechs Milliarden Euro.

Viele Kassen reden daher nicht von den Beitragssenkungen von 14,4 auf 13,6 Prozent, sondern von dringend notwendiger Schuldentilgung - und das zu Recht, wollen sie nicht in eine Finanzierungskatastrophe schliddern.

Versprechen gebrochen

Die Gesundheitsministerin kann deshalb ihre Versprechen nicht einlösen: Die Patienten, denen sie auf der einen Seite eine Fülle von Zuzahlungen aufgeladen hat, werden auf der anderen Seite nicht mit einer Senkung der Kassenbeiträge finanziell entlastet.

Das mögen jene Patienten verkraften, die gut verdienen, nicht aber die ärmeren. Krankheit ist seit dem 1. Januar teuer geworden: zehn Euro Praxisgebühr, höhere Zuzahlungen zu Medikamenten und Therapien, höhere Zuzahlungen auch für den Krankenhausaufenthalt; keine Leistungen mehr für nicht verschreibungspflichtige Medikamente, für Zahnersatz (ab 2005), für das Krankengeld (ab 2006).

Sicher, das Gesundheitssystem kann ohne höhere Zuzahlungen nicht auskommen, und die Bürger, die viel Geld für Wellness ausgeben, können sich diese auch leisten. Bei den Menschen in Alten- oder Pflegeheimen aber, die Sozialhilfe beantragen müssen, um ihren Heimplatz zu bezahlen - und das sind viele -, fressen diese Zuzahlungen das ohnehin kleine Taschengeld auf.

Ulla Schmidts Reformgesetz, das auch das von Horst Seehofer und der Union ist, bedeutet den Anfang vom Ende des Solidargedankens: Reiche stehen für Arme ein, Gesunde für Kranke? Bei diesem Gesetz ist das anders, es zahlen die Kranken, und die Armen werden nicht so geschont, wie es notwendig wäre.

Die plakative Aufregung über die Praxisgebühr, die vor allem von den Ärzten geschürt wird, ist nur ein Punkt im großen Sparprogramm. Das Reformgesetz, das als Untertitel "sparen, sparen, sparen" trägt, stellt medizinische Grundsätze auf den Kopf. Es fördert, und das ist richtig, die Vorbeugung, diese wird mit einem finanziellen Bonus belohnt.

Gleichzeitig aber wird der Leistungskatalog gekürzt, etwa bei der Krankengymnastik. Das mag kurzfristig Geld sparen, langfristig wird es die Kosten erhöhen, weil sich der Zustand der Patienten verschlechtern wird. Und dies ist nur ein Beispiel.

Chronische Fehler

Die Politik - gleichgültig ob Regierung oder Opposition - hat die Kranken allein gelassen. Sie hat keine Debatte darüber geführt, was das "medizinisch Notwendige" ist, das nach dem Sozialgesetzbuch jedem Patienten zusteht.

Diese Definition müsste am Anfang einer jeden Reform stehen. Stattdessen wird neu definiert, wer noch als chronisch krank gelten darf; chronisch Kranke, die 80 Prozent aller Kassengelder verbrauchen, werden von den Zuzahlungen sehr viel schneller befreit als andere Patienten. Dies ist offenbar zu teuer.

Das mit der Definition der chronischen Krankheiten beauftragte Gremium von Ärzten und Krankenkassen wollte die Politik in seinem Sparwillen übertreffen: Es konnte kaum noch einen chronisch Kranken entdecken, was selbst der Ministerin zu weit ging. Dieses Beispiel zeigt, wie schnell die Fürsorge von Ärzte- und Kassenfunktionären für ihr Klientel, die Patienten, aufhört.

Das Gesundheitsgesetz war die falsche Reform zum falschen Zeitpunkt. Es belastet, auch im Vergleich zu allen anderen Akteuren im Gesundheitswesen, die Kranken und die sozial Schwachen einseitig. Positive Ansätze des Gesetzes - mehr Wettbewerb, die Öffnung der Kliniken für ambulante Behandlung, die Gründung von Behandlungszentren - werden erst langfristig Wirkung zeigen; die Negativa des Gesetzes wirken sofort.

Eine neue Finanzierung der Kassen ist überfällig. Der politische Streit, der sich 2003 über Bürgerversicherung und Kopfpauschalen entzündet hat, kann allerdings nicht optimistisch stimmen. Er wird die Lösung hinausschieben, wie auch immer sich die Defizite der Kassen inzwischen entwickeln werden.

Kopfpauschale oder Bürgerversicherung? Das ist die Entscheidung darüber, ob das Solidarprinzip endgültig abgeschafft wird. Solidarisch ist eine Bürgerversicherung, in die alle mit all ihren Einkommen einzahlen, Reiche also mehr als Ärmere.

Kopfpauschalen bedeuten, dass Reiche genauso viel bezahlen wie Ärmere, dass jene, die wenig haben, Zuschüsse aus Steuermitteln erhalten. Die Behandlung ihrer Krankheit ist dann vom Haushaltsetat und dessen Nöten abhängig, von dem Steueraufkommen also, das gerade zur Verfügung steht. Einen Anspruch auf medizinische Leistung haben die Kranken nicht mehr.

Das gerade ein paar Tage alte Reformgesetz wird das kranke Gesundheitssystem nicht kurieren können. Seine Nebenwirkungen dagegen sind nicht kalkulierbar, und das nicht nur, weil mit jedem neuen Gesetz Ärzte, aber auch Patienten Schlupflöcher finden, neue Regelungen zu umgehen und so die Kosten weiter zu erhöhen.

Das Gesundheitssystem ist ein kompliziertes Gebilde, es erträgt nur behutsame Eingriffe. Ein Gesetz, das nur auf die armen, die chronisch kranken und die alten Menschen zugreift, ist untauglich. Es genügt nicht, wenn Finanz- und Wirtschaftswissenschaftler Ausgaben und Eingaben kalkulieren.

Ohne soziale und ethische Kriterien kann keine Reform, die den Kranken helfen soll, gelingen. Statt einer solchen Debatte wurde eine wackere Patientenbeauftragte installiert, ohne Kompetenzen natürlich. Sie ist die billigere Lösung.

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