Kommentar:Ein Akt der Vernunft

Die neue Rechtschreibung gibt es gar nicht, sonder nur eine Vielzahl einander widersprechender Varianten. Durchsetzen wird sich, was sinnvoll ist.

Von Thomas Steinfeld

Die Sprache ist ein wunderbares Ding. Sie währt länger als jeder einzelne, und sie ist doch in jedem einzelnen anwesend und geht ihm nicht verloren. Sie birgt eine Überlieferung, die Jahrhunderte und Jahrtausende zurückreicht.

In ihr sind die Erfahrungen und Gedanken vieler Generationen aufbewahrt, ohne dass dadurch die Verständlichkeit auch nur eines Wortes litte. Ihre Regeln funktionieren beinahe wie ein inneres Organ. In der Sprache ist Geschichte gegenwärtig, so gegenwärtig wie nirgendwo sonst in der Gesellschaft.

Als die Kultusminister der deutschen Länder vor Jahrzehnten eine Kommission von Linguisten damit beauftragten, die Schriftsprache zu vereinfachen, unter scheinbar undeutlichen, ja widersprüchlichen Regeln aufzuräumen und so ihren Beitrag zur Aufhebung aller Klassen- und Bildungsunterschiede zu leisten, war ihnen das Wissen um das innige Verhältnis von Geschichte und Funktion abhanden gekommen - so wie es den Stadtplanern abhanden gekommen war, als sie ihre vermeintlich praktischen Vorstädte aus Beton und Asphalt errichten ließen.

Reform ist ein verkrüppelter Spätling

Entsprechend hochfliegend und gewaltig waren die Ansprüche an eine neue Schriftsprache, bis hin zur radikalen Kleinschreibung. Als die Reform der deutschen Orthographie im Jahr 1996 ins Werk gesetzt wurde, war sie zwar zu einem seltsam verkrüppelten Spätling, zu einem hinkenden Zwerg der linguistischen Sozialplanung verkommen.

Doch welchen Schaden sie dennoch anrichtete! Der Duden war der Sprachentwicklung bis dahin in gebührendem Abstand gefolgt. Nie hatte er ihr etwas vorgeschrieben. Die Reform aber wollte die innere Dynamik der Sprache nicht respektieren. Sie griff in das Verhältnis von Geschichte und Funktion ein und scheiterte, nicht nur einmal, sondern immer wieder.

Die neue Rechtschreibung, die gegenwärtig fast nur noch von den sozialdemokratischen Kultusministern verteidigt wird - es gibt sie gar nicht. Sie existiert nicht als das eine Werk der Reform, sondern nur in Gestalt von zahllosen, einander widersprechenden Varianten, Zwischenstadien und Hausschreibungen.

Wenn sich die deutsche Rechtschreibung heute in einem verwirrenden, ja desolaten Zustand befindet, wenn jeder in seiner Unsicherheit, was noch richtig und was schon falsch sein kann, die abenteuerlichsten Schreibweisen in die Welt setzt, dann ist das kein Zeugnis dafür, dass die neuen Regeln noch nicht beherrscht werden. Sondern vielmehr ein Beleg dafür, dass hier etwas von außen geregelt werden sollte, was sich nur von innen entwickeln kann.

Ein Akt der Vernunft

Wenn sich nun der Spiegel, die Zeitungen der Verlage Springer und Bauer sowie die Süddeutsche Zeitung entschlossen haben, den fortschreitenden Konfusionen der Reform, den immer wieder neu ansetzenden Reformen der Reform nicht weiter zu folgen, sondern zur bislang letzten organisch entstandenen, gesellschaftlich durchgesetzten Schreibweise zurückzukehren, hat das nichts mit Konservativismus zu tun.

Es ist auch kein Zeichen von fortschrittlicher Gesinnung, wenn man einen Verkehrspolizisten auf einem Autobahnkreuz aufstellt, auf dem der Verkehr über Jahrzehnte reibungslos geflossen ist. Und es ist kein Zeichen einer rückwärtsgewandten Gesinnung, wenn man ihn nach zahllosen Karambolagen wieder abberuft.

Es ist ein Akt der Vernunft, den Konsens an dem Punkt wieder aufzugreifen, an dem er vor acht Jahren mutwillig gekündigt wurde. Irgendwann, in gar nicht ferner Zeit, werden das auch die Kultusminister verstehen, die jetzt in bürokratischer Arroganz darauf beharren, dass sie einmal einen Beschluss gefasst haben - sie werden begreifen, dass Anweisungen, die nicht befolgt werden, der Autorität eher schädlich sind.

Die jüngeren Kinder werden umlernen müssen

Aber was geschieht jetzt mit den Kindern, fragen viele, die den neuen Rechtschreibungen zwar skeptisch gegenüberstehen, aber in der Rückkehr zur alten nur eine weitere, möglicherweise überflüssige Anstrengung erkennen wollen? Nun - die älteren Kinder haben die alte Rechtschreibung noch gelernt. Sie werden zurückkehren können. Die jüngeren aber werden umlernen müssen. Das aber kann nicht so schwierig sein, wie es klingt.

Denn die alte Rechtschreibung ist gegenwärtig geblieben, in den meisten Büchern, in Zeitungen und Zeitschriften, im privaten Schriftverkehr, so dass es für die Kinder vor allem darum gehen wird, sich für den persönlichen Gebrauch anzueignen, was sie schon von woanders kennen - ganz abgesehen davon, dass sie in den vergangenen Jahren nicht nur auf alte und neue Rechtschreibungen gestoßen sind, sondern zunehmend auch auf phantastische, ja skurrile Orthographien, die ihnen hoffentlich bald wieder erspart bleiben.

Keiner denkt daran, die deutsche Rechtschreibung auf dem Stand des Jahres 1996 zu konservieren. Sie entwickelt sich weiter, und es mag gut sein, dass so manche Erfahrung aus dem nun gescheiterten Versuch ihrer Reform in sie eingehen. Dafür aber benötigt das Land keinen Kultusminister und vor allem keine Kommission. Statt dessen ist ein wenig Toleranz erforderlich für abweichende Schreibweisen, vor allem in den nächsten Jahren. Durchsetzen wird sich, was sinnvoll ist.

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