Kommentar:Die Helden von Karlsruhe

Juristen sind Helden der Gesetzesauslegung. Im Studium beginnt dieses Heldentum eher lustig. Man lernt im ersten Semester den Satz: "Weihnachtsmann im Sinn des Gesetzes ist auch der Osterhase." Im juristischen Olymp, also im Bundesverfassungsgericht, ist die Gesetzesauslegung nicht mehr ganz so schnurrig, auch wenn gestern Vizepräsident Winfried Hassemer für heiter-gelassene Prozessatmosphäre sorgte.

Heribert Prantl

Aber die Gesetzesinterpretation in Karlsruhe ist bisweilen ähnlich gewagt: Soeben verhandelte das Gericht über die Frage, ob auch die unechte Vertrauensfrage eine echte Vertrauensfrage im Sinn des Artikels 68 Grundgesetz ist.

Kommentar: Wird es Neuwahlen geben? Bis Ende August wird das Verfassungsgericht ein Urteil fällen

Wird es Neuwahlen geben? Bis Ende August wird das Verfassungsgericht ein Urteil fällen

(Foto: Foto: dpa)

Im Jahr 1983 hat das Gericht diese Frage schon beantwortet - im Ergebnis positiv. Nun müssen, weil Bundespräsident Köhler nach einer unechten Vertrauensfrage von Kanzler Schröder Neuwahlen angeordnet hat, die acht Richter (andere als 1983) noch einmal darüber urteilen, ob das Unechte dem Echten gleich zu achten sei.

Aber weil es beim höchsten Gericht nicht um das rechtliche Schicksal von Schokoladenhohlfiguren geht, sondern um hohe Politik, schmunzelt niemand. Es geht schließlich darum, ob am 18. September 61,9 Millionen Deutsche vorzeitig zur Wahl gehen können/dürfen/müssen. Um es so vorweg zu sagen: Diese Neuwahlen sind noch nicht sicher. Aus den Fragen der Richter bei der mündlichen Verhandlung hörte man doch einige Skepsis.

Kanzlerdemokratie oder Parlamentsdemokratie

Das höchste Gericht hat zu entscheiden, ob wir in einer Kanzlerdemokratie oder in einer Parlamentsdemokratie leben. Es hat zu entscheiden, was mehr zählt: das Grundgesetz, das eine manipulierte Abstimmung nur zu dem Zweck, Neuwahlen herbeizuführen, nicht vorsieht - oder aber die so genannte Staatspraxis, die diesen unsauberen Weg zu Neuwahlen schon einmal, 1982/83 gegangen ist.

Kann diese Staatspraxis, also das einvernehmliche Handeln dreier Verfassungsorgane (Bundeskanzler, Bundestag, Bundespräsident) die Verfassung uminterpretieren? Ist die normative Kraft des Faktischen so stark, dass ein Verfassungsgericht gar nicht anders kann, als seinen Segen zu geben? In diesem Fall hätten Schröder und Köhler Recht getan; sie hätten, wie früher schon Helmut Kohl und der damalige Bundespräsident Karl Carstens (der allerdings mit sehr schlechtem Gewissen), den Artikel 68 Grundgesetz "ver-rückt".

Aber womöglich ist es die Pflicht des Verfassungsgerichts, die "Staatspraxis " zu hinterfragen und zu sagen: Wenn die Staatspraxis einen leichteren Weg zu vorzeitigen Neuwahlen politisch für notwendig hält, dann möge sie diesen Weg juristisch befestigen - das heißt: Dann möge man das Grundgesetz ausdrücklich ändern und nicht klammheimlich so tun, als sei es schon geändert.

Weimar passt nicht als warnendes Beispiel

Einer solchen Verfassungsänderung könnten nicht mehr die schlechten Erfahrungen aus der Weimarer Republik entgegengehalten werden: Damals kam es alle naslang zu einer Parlamentsauflösung, zu der exklusiv der Reichspräsident berufen war. Bei Einführung eines Selbstauflösungsrechts würde das Parlament selber mit sehr hoher Mehrheit entscheiden. Eine Inflation von Parlamentsauflösungen wäre gewiss nicht zu befürchten.

Also: Grundgesetzänderung statt Grundgesetzaushöhlung! Eine solche Belehrung könnte Aufgabe des Verfassungsgerichts sein. Es müsste sich darüber Gedanken machen, wie es seine Belehrung gestaltet. Da gibt es zwei Möglichkeiten, erstens: Das Gericht belässt es bei der bloßen Mahnung "So künftig nicht mehr"; die Republik würde auch dann nicht untergehen.

Zweitens: Das Gericht verbindet seine Belehrung mit der scharfen Maßnahme, die vorgezogene Neuwahl für verfassungswidrig zu erklären. Für die Autorität des Rechts wäre diese zweite Variante kein Schaden; die Richter würden sich aber wohl dem Vorwurf der Welt-, genauer gesagt: der Politikferne aussetzen. Diese Kritik könnten sie mit Stolz tragen.

Im Jahr 1983 hat sich das Gericht nicht getraut. In seinem kurvenreichen Urteil formulierte es zwar klare Bedingungen für eine parlamentsauflösende Vertrauensfrage; und es war eigentlich klar, dass das Vorgehen des damaligen Kanzlers Kohl diesen Bedingungen nicht genügte.

Großer Spielraum

Die Richter zogen aber daraus keine Konsequenzen, weil sie dem Kanzler und dem Bundespräsidenten einen gewaltigen Ermessensspielraum einräumten. Damit verzichteten die Richter weitgehend auf gerichtliche Kontrolle und machten daraus eine freiwillige Selbstkontrolle der Politik. Die Politik macht freilich, wie sich in den letzten Wochen gezeigt hat, keine Anstalten, die damals vom Gericht aufgestellten Maßstäbe einzuhalten.

Was nun? Der Respekt vor dem Verfassungsgericht gebietet es nicht, mit dem Hut zugleich den Kopf abzunehmen. Das gilt auch für die Richter von heute beim Umgang mit dem Urteil der Richter von gestern. Das problematische Urteil von 1983 ist kein juristisches Evangelium. "Nein" zu sagen - das könnte sich das Gericht sehr wohl erlauben. Um es mit der Klägerin, der SPD-Abgeordneten Jelena Hoffmann, zu sagen: Es würde nicht die "Septemberrevolution" ausbrechen, fänden am 18. September keine Wahlen statt.

(SZ vom 10.8.2005)

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