Kommentar:Der Krieg rückt näher

Nach dem neuen Anschlag in Kaschmir sieht sich Indien im Zugzwang gegen Pakistan.

Andreas Bänziger

(SZ vom 15.5.02) - So nahe wie nach dem Anschlag vom Dienstag standen Indien und Pakistan noch nie vor einem neuen Krieg, dem vierten zwischen den beiden Erzfeinden. Die Attentäter zielten auf die Wohnquartiere der indischen Armee südlich von Jammu, der Winterhauptstadt von Kaschmir. Mindestens 32 Tote, Soldaten, Frauen, Kinder - das ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen könnte.

Nach dem Attentat mutmaßlicher Terroristen aus Pakistan auf das indische Parlament in Delhi, das am 13. Dezember nur dank eines glücklichen Zufalls lediglich 14 Tote forderte, ließ Indien seine ganze militärische Macht an der Waffenstillstandslinie in Kaschmir und an der gemeinsamen Grenze mit Pakistan aufmarschieren. Pakistan warf im Gegenzug 80 Prozent seiner Armee an die Ostgrenze. Dort stehen Hunderttausende Soldaten beider Seiten noch jetzt, eingegraben, gefechtsbereit, Auge in Auge.

Nach dem neuen Anschlag, dem blutigsten, seit ein Angriff auf das Parlament von Kaschmir und Jammu in Srinagar im Oktober 38 Tote forderte, wird der Druck auf Indiens hindu-nationalistische Regierung von Premierminister Atal Bihari Vajpayee gewaltig. Vajpayees Parteigänger werden lautstark fordern, die indische Armee müsse auf der Jagd nach den Hintermännern der Attentäter die Waffenstillstandslinie mit Pakistan überschreiten und die im pakistanischen Teil von Kaschmir vermuteten Ausbildungslager von Terrororganisationen wie Lashkar-e-Taiba und Jaish-e-Mohammed angreifen.

Wenn man von da aus weiter denkt, kommt man in apokalyptische Dimensionen: Pakistan wird zurückschlagen, ein ausgewachsener vierter Krieg zwischen den beiden Ländern wäre nicht unwahrscheinlich, und dann ist nicht vorauszusagen, ob Pakistan, das diesen Krieg als der kleinere und schwächere der beiden Streithähne erneut verlieren wird, nicht in der Verzweiflung zur Atombombe greift.

Die Inder werden natürlich Pakistan beschuldigen, nach dem Winter im Himalaya erneut so genannte Dschihadis, selbst ernannte Gotteskrieger, in den indischen Teil von Kaschmir einzuschleusen. Das muss nicht so sein, aber Tatsache ist, dass Pakistan die Geister, die es rief, nicht mehr los wird. Pakistans Generäle, unter ihnen der heutige Präsident Pervez Musharraf, haben lange den Aufbau von internationalen Terroristengruppen, nicht unähnlich Osama bin Ladens al-Qaida, gefördert, die sie dann im Kampf gegen Indien um das mehrheitlich muslimische Kaschmir einsetzten.

Schon vor drei Jahren, nachdem Pakistan mit Hilfe der Dschihadis im Schutze des Winters Teile von Indisch- Kaschmir besetzt hatte, führte diese Taktik fast zu einem neuen Krieg. Inzwischen zieht Präsident Musharraf zwar nach dem 11.September als neuer Freund der Amerikaner gegen den Terrorismus zu Felde.

Die berüchtigten Organisationen Lashkar-e-Taiba und Jaish-e-Mohammed wurden verboten, ihre Führer, allerdings nur vorübergehend, gefangen genommen. Aber solche Organisationen, die im Namen des Propheten zu terroristischen Mitteln greifen, verselbstständigen sich, man kann sie nicht einfach per Knopfdruck abstellen. Darin liegt heute ihre Gefahr.

Das Konfliktpotenzial in dieser Weltregion ist atemberaubend. In Afghanistan ist ein innenpolitisches Gleichgewicht noch nicht gefunden, die Führer der Taliban und al-Qaida sind nicht dingfest gemacht.

In Pakistan kann sich die Stimmung jederzeit gegen General Musharraf wenden; erst vorige Woche zeigte ein blutiges Attentat in der Wirtschaftsmetropole Karachi, dem elf Franzosen und drei Pakistaner zum Opfer fielen, wie instabil die Situation ist. Und in Indien hat es die rechtsgerichtete Regierung aus wahltaktischen Gründen zugelassen, dass ein neuer Hindu-Extremismus aufkommen konnte. Fast tägliche Morde an Muslimen im Gliedstaat Gujarat sind die Folge. Tatsächlich: Die Region ist der gefährlichste Ort auf dieser Welt, wie seinerzeit schon der amerikanische Präsident Bill Clinton feststellte.

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