Kolumne:Wortschatz

Emcke, Carolin

Carolin Emcke, 51, ist Autorin und Publizistin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Es ist endlich an der Zeit, darüber nachzudenken, wie das demokratische Vokabular in der Politik vor dem Austrocknen zu bewahren wäre.

Von Carolin Emcke

Im zweiten Band ihrer Tagebücher stellt die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag im August 1964 eine Liste mit Wörtern auf. "Adjektive" steht trocken darüber, dann folgen, in zwei Reihen gegliedert, Eigenschaftsworte: "punktiert", "affenartig", "lakonisch", "zinnoberrot", "listig", "spitzbogig", "bescheuert", "stromlinienförmig". Die Begriffe werden nicht weiter erläutert. Es gibt keinen Kontext, in den sie sich einfügen ließen. Sie gehören nicht einem einzelnen Wortfeld oder einer Assoziationskette an. Einen Tag später notiert Sontag Verben: unter anderem "schlitzen", "entwischen", "schuppen", "herumpfuschen", "sprinten", "verdreschen", "schrillen", "wimmern". In früheren Aufzeichnungen gab es durchaus auch schon Listen: Erinnerungen, was es zu besorgen, welche Filme es zu schauen oder welche Bücher es zu lesen gelte. Manchmal waren gute Vorsätze darunter, mit denen Sontag sich selbstkritisch ermahnte oder korrigierte, "Bibliotheken benutzen" bemerkte sie dann, oder: "mich nicht wiederholen". Aber diese Wortlisten waren doch etwas anders geartet. Unter all den beeindruckenden Texten von Susan Sontag sind es diese kleinen Listen, die mich besonders berühren. Hier lernte offensichtlich eine Schriftstellerin Vokabeln in ihrer eigenen Sprache. Als ob sie Angst hätte, ohne fleißiges Üben könnte der Quell der Worte versiegen, als würde mit der Zeit nur noch ein kümmerliches Quantum an Begriffen übrig bleiben.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: