Kolumne:Willkür

Emcke, Carolin

Carolin Emcke, 51, ist Autorin und Publizistin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Russische Realität: Wenn niemand weiß, was erlaubt und was verboten ist, muss potenziell jede Organisation befürchten, angeklagt zu werden.

Von Carolin Emcke

Ursprünglich bezeichnete der Begriff der Willkür (mittelhochdeutsch: will(le) und kür) lediglich den freien Entschluss, die Entscheidung eines unabhängigen Willens. Erst später wandelte sich die Bedeutung des Wortes hin zu der gegenwärtigen: Als Willkür werden - laut Duden - nun solche Handlungen beschrieben, die "die allgemein geltenden Maßstäbe, Gesetze, Rechte und Interessen anderer missachten". Bei willkürlichen Akteuren zählen keine Regeln oder Konventionen, es gibt keine ethischen Vorgaben - Willkür setzt sich über alles hinweg, was den eigenen Willen und die eigene Macht einschränken könnte.

Für Immanuel Kant bestand denn auch eine der zentralen Aufgaben des Rechts darin, eben diese Willkür der Einzelnen zu bändigen: "Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann", heißt es in seiner Rechts- und Tugendlehre, der "Metaphysik der Sitten" von 1797.

NGOs sind aufgefordert, sich als "ausländische Agenten" registrieren zu lassen

Dass das Recht durch einen Staat auch so entstellt werden kann, dass es der Willkür nicht entgegensteht, sondern ihr im Gegenteil zur Durchsetzung verhilft, das zeigt sich gegenwärtig in Russland. Dort reihen sich seit Jahren verschiedenste föderale Gesetze aneinander, die vornehmlich diejenigen zivilgesellschaftlichen Organisationen bestrafen und verdrängen, die sich für die universalen Menschenrechte einsetzen. Dabei werden die juristischen Instrumente, die eigentlich Rechtssicherheit garantieren sollen, in solch taktischer Vagheit formuliert, dass sie permanent Angst und Unsicherheit erzeugen. Schon der Name des sogenannten Agenten-Gesetzes von 2012 klingt eher nach einer unheimlichen Fantasie von George Orwell als nach einer wirklichen Verordnung: "Über die Änderung einiger Gesetzesakte der Russischen Föderation bezüglich der Regulierung der Tätigkeit nichtkommerzieller Organisationen, die die Funktion eines ausländischen Agenten ausüben". Im administrativen Kürzel heißt das rhetorische Monstrum schlicht Nr. FZ-121.

Das Gesetz bezieht sich auf all jene Nichtregierungsorganisationen (NGO), die "an politischer Tätigkeit beteiligt" sind und Geld aus dem Ausland erhalten. Was exakt unter politischer Tätigkeit zu verstehen sein soll, wird absichtlich flexibel deutbar gehalten. Denn die offene Interpretierbarkeit des Gesetzes verspricht die größtmögliche Einschüchterung der Opposition. Offiziell fällt eine NGO unter diese Beschreibung, wenn sie sich "an der Organisation und Durchführung von politischen Aktionen beteiligt, die die Entscheidungen der staatlichen Organe beeinflussen wollen" oder "an der Bildung der öffentlichen Meinung zu diesem Zwecke".

Nun ist es natürlich genau der Zweck von NGOs, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Absichtlich einflusslos ist vermutlich keine Organisation auf der Welt. Insofern kann unter diese Formulierung potenziell jedes zivilgesellschaftliche Engagement fallen. NGOs sind seither aufgefordert, sich beim russischen Justizministerium als "ausländische Agenten" registrieren zu lassen, alle ihre Veröffentlichungen und Broschüren müssen den Namen "ausländische Agenten" führen - ein historisch belasteter Terminus, der die Organisation als "Volksfeinde" stigmatisiert. Einmal auf einer offiziellen Liste als ausländische Agenten geführt, müssen die NGOs zudem Überprüfungen ihrer Buchhaltung und Befragungen ihrer Mitarbeiter über sich ergehen lassen. Aus Furcht vor staatlicher Verfolgung haben manche NGOs sich gleich aufgelöst. Mehr als 130 Organisationen haben sich laut Justizministerium seither registrieren lassen.

Im Jahr 2015 folgte das nächste Gesetz, das die staatliche Willkür gegenüber der Opposition legitimiert: Damit wurden "unerwünschte" ausländische oder internationale Organisation verboten, die "eine Bedrohung der Grundlagen der Verfassungsordnung der Russischen Föderation, der Verteidigungsfähigkeit des Landes oder der Staatssicherheit" darstellten. Kurz darauf wurde prompt die Wohltätigkeitsorganisation "Open Society" von George Soros verboten. In 28 Jahren hatte Soros russische Kultur- und Bildungseinrichtungen mit mehr als einer Milliarde Dollar gefördert. "Dieses Gesetz schneidet Russlands Aktivisten von der internationalen Gemeinschaft der Menschenrechtsorganisationen ab", kommentierte Tanja Lokschina von "Human Rights Watch" das russische Vorgehen.

Nun gibt es seit dieser Woche erstmals ein Strafverfahren nach dem "ausländische Agenten-Gesetz" gegen die russische Menschenrechts-Aktivistin Valentina Tscherewatenko, Vorsitzende der Organisation "Frauen vom Don". Ihr drohen ein bis zwei Jahre Haft, sollte sie im Prozess tatsächlich verurteilt werden. Es ist ein Präzedenzfall, mit dem die zivilgesellschaftlichen Bewegungen mundtot gemacht werden soll. Bislang wurde nach dem FZ-121 lediglich Bußgeld verhängt. Die "Frauen vom Don", die Tscherewatenko bereits 1993 gegründet hat, arbeiten im südrussischen Nowotscherkassk: Sie helfen Frauen und Kindern, die in Not geraten sind, geben Rechtsberatung und betreiben Frauenhäuser im Nordkaukasus. Bislang kann nur spekuliert werden, was an der Arbeit der "Frauen vom Don" das Strafverfahren ausgelöst hat. Auch das gehört zur Strategie der möglichst umfassenden Destabilisierung der Opposition: Wenn niemand weiß, was genau erlaubt und was genau verboten ist, muss potenziell jede Organisation befürchten, angeklagt zu werden. Tscherewatenko vermutet, dass ihr Engagement als Friedensaktivistin, die sich auch für den Dialog zwischen russischen und ukrainischen Frauen einsetzt, den Zorn der Regierung verursacht haben könnte. So besuchte Tscherewatenko im Frühjahr die ukrainische Pilotin Najda Sawtschenko, die damals im Gefängnis in Nowotscherkask inhaftiert war. Tscherewatenko überreichte anlässlich des Internationalen Frauentags am 8. März Sawtschenko einen Strauß Blumen. Womöglich waren die Blumen dem russischen Regime zu viel.

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