Kolumne:Unsteter Glaube

Emcke, Carolin

Carolin Emcke, 51, ist Autorin und Publizistin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Kubas Präsident Raúl Castro und Papst Franziskus kommen sich näher. Was passiert, wenn das als sicher Geglaubte plötzlich ad absurdum geführt wird.

Von Carolin Emcke

Toni Morrison beschreibt in ihrem jüngsten Roman "God help the child" ein wunderbares Ritual. Jeden Samstag, noch vor dem Frühstück, halten die Eltern von Booker kleine Konferenzen ab. Jedes Kind soll (und darf) zwei Fragen beantworten: "What have you learned that is true (and how do you know)?" und "What problem do you have?" Anschließend gibt es, wie zur Belohnung, ein festliches Frühstück mit allerlei Köstlichkeiten.

Das ist auch für Erwachsene eine schöne Übung. Einmal in der Woche innezuhalten und sich zu fragen: Was habe ich erfahren oder gelernt, das wahr ist? Und: Wie kann ich da so sicher sein? Woher weiß ich, dass es wahr ist? Wer es probiert, wird schnell feststellen, dass spätestens am zweiten Teil der Frage - woher weiß ich, dass es wahr ist? -, wenn es also darum geht, Gründe zu liefern, warum etwas für wahr gehalten werden kann, einige Gewissheiten zerschellen. Aus "was habe ich gelernt, das wahr ist" wird schnell "was habe ich erfahren, das doch nicht so wahr ist wie bislang angenommen".

In der vergangenen Woche lieferte der kubanische Präsident Raúl Castro die kurioseste Lehrstunde, wie etwas, das zumindest ich bislang für wahr (und möglich) hielt, ad absurdum geführt werden kann. Anlässlich seines Besuchs bei Papst Franziskus im Vatikan, äußerte sich der 83-jährige Bruder des Revolutionsführers Fidel gegenüber Reportern: "Ich lese alle Reden des Papstes, seine Kommentare, und wenn der Papst so weitermacht, werde ich anfangen zu beten und wieder in die Kirche eintreten." Im Hinblick auf den für September dieses Jahres geplanten Besuch von Franziskus auf Kuba kündigte Castro sogar an, er wolle alle Messen des Papstes besuchen. "Mit Vergnügen." Als ahnte der kubanische Staatschef, dass seine Zuhörer das Ganze für eine Episode aus "Versteckte Kamera" halten könnten, fügte er noch hinzu: "Das ist kein Scherz."

Raúl Castro wird religiös? Das ist ungefähr so, als würde sich plötzlich die Queen als passionierte Kifferin zeigen, Klaus Wowereit als hetero oder Günther Jauch an politischen Fragen interessiert. Wie wandelbar oder unstet können die Neigungen oder Eigenschaften einer Person denn sein? Zumal es hier weniger um stabile oder instabile Vorlieben einer Person denn um ideologische Positionen und historische Erfahrungen eines politischen Repräsentanten geht. Der Erste Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas will "mit Vergnügen" den Predigten des Papstes lauschen? Was kommt als Nächstes: Er möchte in Miami einen Hedgefonds managen?

Nur zur Erinnerung: Über Jahrzehnte und verschiedene Päpste hinweg artikulierte der Vatikan seine dogmatische Ablehnung des Kommunismus in unterschiedlichen Maßnahmen und Dekreten: von der Enzyklika "Divini Redemptoris" von Pius XI. gegen den "atheistischen Kommunismus" als falsches Ideal mit "trügerischen Versprechen" im Jahr 1937, über das Dekret, mit dem Papst Pius XII. 1949 "militanten Kommunisten" mit der Exkommunikation drohte bis zu dem Dekret von Papst Johannes XXIII. im Jahr 1959, mit dem es Katholiken untersagt wurde "für Parteien oder für Kandidaten stimmen, die eine Neigung zum Zusammengehen mit dem Kommunismus zeigen." Als Fidel Castro in den 60er-Jahren die katholische Kirche als "Refugium der Konterrevolution" kritisierte und eine Reihe von antireligiösen Gesetzen erließ, antwortete der Vatikan 1962 mit der Exkommunikation des kubanischen Revolutionsführers.

Gewiss, mit dem Ende des Kalten Krieges haben sich die dogmatischen Konturen wechselseitiger Ablehnung etwas abgeschliffen: Kubanische Christen dürfen der Kommunistischen Partei beitreten, die Verfassung definiert den kubanischen Staat nicht mehr als atheistisch, sondern als laizistisch und zuletzt gestattete die Regierung immer dann einen christlichen Feiertag, wenn ein Papst auf einer Reise in den Karibikstaat darum ersucht hatte: Nach Johannes Pauls Besuch auf Kuba 1998 wurde Weihnachten als nationaler Feiertag zugelassen, seit Benedikts Reise nach Havanna im Jahr 2012 darf auch der Karfreitag offiziell begangen werden.

Jene, die sich nicht anpassen, bleiben ausgeschlossen, hier wie dort

In den Berichten über die erstaunliche Annäherung der früheren Antipoden findet sich ein Detail, das mir besonders gut gefällt: Bei der Unterhaltung zwischen Papst Benedikt und Fidel Castro in der Nuntiatur in Havanna sei es damals nicht allein um die Änderungen der Liturgie in der Kirche gegangen, hieß es, sondern Fidel Castro habe Benedikt auch gefragt, was ein Papst eigentlich so mache. Brillant. Schade nur, dass die Antwort nicht mit überliefert wurde. Man wünschte sich ein Gespräch wie in Toni Morrisons Roman, bei dem Castro und der Papst sich gegenseitig fragten: "Was haben Sie gelernt, was wahr ist und woher wissen Sie das?"

Nun ließe sich spätestens seit dem Pontifikat von Franziskus sagen: Der Antikommunismus der katholischen Kirche ist auch schon lange nicht mehr das, was er mal war. Mit dem Apostolischen Schreiben "Evangelii Gaudium" vom November 2013 formuliert der argentinische Papst eine Kritik der Logik der globalisierten Marktwirtschaft, die auch von Naomi Klein hätte stammen können: Unter dem Abschnitt "Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung" heißt es da: "Es geht nicht mehr einfach um das Phänomen der Ausbeutung und der Unterdrückung, sondern um etwas Neues: Mit der Ausschließung ist die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der man lebt, an ihrer Wurzel getroffen, denn durch sie befindet man sich nicht in der Unterschicht, am Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern man steht draußen. Die Ausgeschlossenen sind nicht "Ausgebeutete", sondern Müll, "Abfall".

So ironisch es anmutet, dass der vormals antikommunistische Vatikan sich nun antikapitalistisch wie nie gibt und das kommunistische Kuba privatwirtschaftliche Reformen einleitet, so bleibt doch immer noch ein dogmatischer Rest: Jene, die nicht hineinpassen, die kritischen, dissidenten Stimmen, die, die anders denken, anders glauben oder anders lieben, die bleiben, hier wie dort, ausgeschlossen. Kein Scherz.

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