Kolumne:Übersetzen

Emcke, Carolin

Carolin Emcke, 51, ist Autorin und Publizistin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Eine Demokratie taugt nur etwas, wenn sie das eigene Versprechen immer wieder praktisch begründet.

Von Carolin Emcke

Die menschen nehmen einander wegen der stille", beginnt einer der schönsten Verse des tschechischen Dichters Jan Skácel aus der Gedicht-Sammlung "Wundklee", "man hört sie nur zu zweit - anders nicht." Allein mag die Stille schwer auszuhalten sein. Allein mag sie zu leise sein. Also lässt sie sich nur zu zweit hören.

Es ist nicht nur die Stille, die vereinzelt nicht zu haben ist. Auch für die Würde, die jedem menschlichen Wesen zu eigen sein soll, braucht es einen anderen, der sie achtet und nicht verletzt. Allein scheint sie nicht auf. Für einen allein spielt sie keine Rolle, entwickelt keine Kraft. Die Menschen nehmen einander wegen der Würde, so ließe sich sagen, man sieht sie nur zu zweit. Anders nicht. Dasselbe gilt für manche der Ideale und Werte, die in diesen Tagen behauptet oder beschworen werden, so als seien sie einfach da. Als gäbe es sie für einen allein. Als ließen sie sich besitzen und benutzen wie ein Möbelstück, in dem man es sich bequem macht. Als brauchte es nicht des oder der anderen, damit sie eine Rolle spielen und ihre Kraft entfalten können. So wird über "Europa" gesprochen, als sei das etwas, das einem allein gehören könnte. Einfach so. Als brauchte es für Europa nicht Menschen, Europäer oder (Noch) Nicht-Europäer, die es erst im Miteinander erfahrbar machen. Als bräuchte Europa nicht jene, die es achten und nicht verletzen.

Fehler und Irrtümer helfen, nicht nur den anderen, sondern sich selbst zu verstehen

Und so wird über die "Demokratie" gesprochen, als sei das ein fester Ort, etwas, in dem man es sich ungestört einrichten kann. Als sei eine Demokratie etwas, das einer Gruppe allein gelingen könnte oder gar müsste. Mehr noch: als gehörte eine Demokratie denen, die schon dazugehören. Und als müssten sich nur diejenigen, die neu hinzugekommen sind und weiter hinzukommen, "integrieren".

Aber in eine Demokratie lässt sich nicht integrieren. In einer Demokratie lässt sich nur partizipieren. Nicht, weil es in einer demokratischen Gesellschaft nicht Praktiken und Bedeutungen, Sprachen und Techniken zu lernen gäbe, die unabdingbar sind. Nicht, weil es nicht Grenzen und Normen gäbe, die geachtet werden müssen. Nicht, weil es nicht ein historisches Erbe aus Krieg und Versehrung gäbe, das sich nicht leugnen oder verdrängen lässt. Sondern weil all das in einer offenen Demokratie von allen und jedem immer wieder gelernt und angewandt gehört, wenn sie nicht irrelevant oder undemokratisch werden soll.

"Die politische Freiheit und das demokratische Begehren der Freiheit kennt jeder", schreibt der Philosoph Martin Saar in seinem jüngsten Buch "Die Immanenz der Macht", "selbst der, dem sie vorenthalten wird." In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Geflüchteten wenig von denen, in deren Gemeinschaft sie Zuflucht suchen. Ihnen allen gilt die Demokratie nur etwas, wenn sie auch sie einschließt und wenn sie praktisch erfahrbar wird. Das haben alle emanzipatorischen Bewegungen miteinander gemein: Ihnen allen gelten die darin behauptete Freiheit und Partizipation nur etwas, wenn sie ausprobiert und gelebt werden können. Und zwar auch von denjenigen, denen sie bis dahin vorenthalten waren, weil sie weiblich oder schwarz oder jüdisch oder gehörlos sind. Eine demokratische Gesellschaft taugt nur etwas, wenn sie die eigenen Voraussetzungen und Versprechen immer wieder praktisch zu begründen und zu erweitern weiß.

Natürlich ist das anspruchsvoll. Auch das gelingt nur im Miteinander. Anders nicht. Das wissen zuvorderst all jene, die im Alltag, in den Kindergärten, in Schulen, auf der Straße, in Gerichten damit zu tun haben, demokratische Begriffe und Formeln in verständliche und gelebte Praxis zu übersetzen: Mütter und Väter, Lehrerinnen und Jugendsozialarbeiter, Verwaltungsrichter und Erzieherinnen, aber auch Künstlerinnen und Künstler, die mit ästhetischen Strategien die eingeübten Handlungs- und Vorstellungsräume befragen und erweitern.

Vielleicht ist dies von allen Aufgaben und Herausforderungen, die gegenwärtig anstehen, die elementarste: das wechselseitige Zuhören und Übersetzen von Normen, Erwartungen und Erfahrungen. Was das heißt? Es heißt, Schutz nicht einfach nur zu versprechen, sondern zu überlegen, worin Schutz für Menschen mit anderen Erfahrungen bestehen kann. Jemand, der gewohnt ist, von Hubschraubern mit Fassbomben angegriffen zu werden, kann nicht sofort verstehen, dass Hubschrauber hier zu Rettungsflügen und gelegentlich auch nur für die Beobachtung von Staus eingesetzt werden.

Es heißt, abstrakte Normen auch in konkreten Anwendungen zu beschreiben. Jemandem, der den Begriff der Religionsfreiheit nicht kennt oder glaubt, dass sie nur die christliche Religion meint, gilt es zu erklären, dass dieses Prinzip die Freiheit beinhaltet, anders zu glauben, anders zu lieben, anders zu trauern, als es möglicherweise die Mehrheit tut. Wie Fragen des guten Lebens (die individuell beantwortet werden können) von Fragen der Gerechtigkeit (die kollektiv verhandelt werden müssen) zu scheiden sind, welche Hoffnungen, welche Erzählungen, welche Lieder weitergereicht gehören, all das muss und darf übersetzt werden.

"Because I don't know the background", schrieb die amerikanische Autorin Eva Hofman in ihrem autobiografischen Essay "Lost in Translation", "I don't always grasp the foreground." ("Weil ich den Hintergrund nicht kenne, begreife ich den Vordergrund nicht immer"). Wenn ein demokratisches Europa oder eine europäische Demokratie gelingen soll, dann muss der Hintergrund nach vorne geholt werden, nicht einmal, sondern immer wieder.

Alle, die zweisprachig oder auch nur mit Eltern aus verschiedenen Kulturen aufgewachsen sind, wissen, dass dieser Prozess des Übersetzens nicht nur brutal mühsam und anfällig für Missverständnisse, sondern auch ungeheuer lustig und wunderbar kreativ sein kann. Vielleicht gehört das zum Schönsten am Prozess des Übersetzens: dass auch die Fehler und Irrtümer nützlich sind, weil sie helfen, nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst besser kennenzulernen.

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