Kolumne:Staatsbürger

Gauss

Karl-Markus Gauß, 64, ist österreichischer Schriftsteller und Essayist. Er lebt in Salzburg.

Sollen Südtiroler nun auch Österreicher sein können? Die Frage sät Streit. Dabei gäbe es eine einfache Lösung.

Von Karl-Markus Gauss

Oft bin ich zwischen Meran und Brixen, im Pustertal oder im Vinschgau unterwegs gewesen, und ich gebe es gerne zu: Ich liebe Südtirol. Als Urlaubsziel ist das Land mit seinen natürlichen Schönheiten, kulturellen Reichtümern und geschichtlichen Eigenheiten gerade bei deutschen und österreichischen Touristen sehr beliebt; vielleicht auch deswegen, weil sie hier das Gefühl haben dürfen, sich bereits im helleren und wärmeren Süden zu befinden, ohne dass sie dafür den eigenen Sprach- und Kulturkreis hätten verlassen müssen. Ist Südtirol für sie womöglich ein besonderer, um nicht zu sagen: deutscher Süden, der staatlich zwar bereits zu Italien gehört, in dem es aber noch geordnet und seriös wie nördlich der Alpen zugeht?

Über Jahrhunderte war Südtirol ein Teil der habsburgischen Monarchie. Erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ist es an Italien gefallen, aus dem bald darauf die Faschisten ihren Obrigkeitsstaat zu formen begannen. Mit stupidem Nationalismus haben sie die deutschsprachige Bevölkerung drangsaliert und zu italienisieren versucht; aber selbst als es mit ihrer Herrschaft zu Ende war, nach dem Zweiten Weltkrieg, haben die Südtiroler noch lange darum ringen müssen, als Minderheit in ihren Rechten anerkannt zu werden. Heute freilich verfügen sie über eine Autonomie, die so weit reicht und so gut abgesichert ist wie keine zweite in Europa. Südtirol könnte daher Vorbild sein für andere europäische Regionen, in denen zwischen verschiedenen Volks- und Sprachgruppen sowie Regional- und Zentralregierungen immer wieder Konflikte aufbrechen, die keinem der darin Verstrickten nützen.

Nun haben 19 von 35 Abgeordnete zum Südtiroler Landtag die Republik Österreich ersucht, dass es den Südtirolern erlaubt werden möge, künftig zu ihrer italienischen als zweite Staatsbürgerschaft die österreichische zu erwerben. Dieses nicht gerade mit überwältigender, sondern eher mit katalanischer Mehrheit gestellte Ersuchen wurde in Italien empört, von der neuen österreichischen Regierung hingegen mit großem Wohlwollen aufgenommen. Dass sich in Italien nicht nur die extreme Rechte derart vehement gegen die doppelte Staatsbürgerschaft ausspricht, ist merkwürdig. Immerhin hält das Land es mit der Staatsbürgerschaft für sogenannte ethnische Italiener und deren Nachfahren sehr großzügig, sodass in Slowenien wie Kroatien Tausenden Angehörigen der italienischen Minderheit die italienische Staatsbürgerschaft erteilt wurde.

Ebenso merkwürdig ist es, dass die österreichische Regierung das Anliegen geradezu dankbar aufgegriffen hat und dieses sogar in den Koalitionsvertrag zwischen ÖVP und FPÖ geschrieben wurde. Denn in einer Erklärung des Außenministeriums in Wien, das übrigens seit vielen Jahren von Politikern der Volkspartei geführt wird, heißt es in der Präambel klipp und klar, dass für Österreich der "Grundsatz der Vermeidung mehrfacher Staatsangehörigkeit" gelte. So sind die Behörden seit Monaten damit beschäftigt, Österreicher türkischer Herkunft auszuforschen, die die österreichische Staatsbürgerschaft erworben, die türkische jedoch entweder nicht aufgegeben oder insgeheim wieder erstanden haben. Wem das nachzuweisen ist, der muss seinen österreichischen Pass zurückgeben.

Wollten die Kärntner Slowenen einen zweiten Pass - es gäbe einen Sturm der Entrüstung

Auch sind in Österreich etliche nationale Minderheiten anerkannt, darunter die slowenische in Kärnten. Ihr wurden die sogar im Staatsvertrag von 1955 verbrieften Rechte bis vor wenigen Jahren rabiat bestritten. Obwohl sie ihren österreichischen Patriotismus oft genug unter Beweis stellten, wurden die Kärntner Slowenen stets verdächtigt, es in Wahrheit mit den slawischen Feinden im Süden zu halten. Würden sich die österreichischen Slowenen heute erdreisten, auch für sich eine zweite Staatsbürgerschaft zu verlangen, der Sturm der Empörung würde nicht nur in Kärnten erheblich sein, sondern über ganz Österreich hinwegfegen.

Da in Europa Millionen entweder als Angehörige "autochthoner" Minderheiten oder als Migranten über eine doppelte Identität verfügen, spricht vieles dafür, dass doppelte Staatsbürgerschaften sinnvoll sein und Gutes bewirken können. Es lässt sich aber durchaus vernünftig auch gegen sie argumentieren. Daher empfiehlt es sich, die Sache nicht abstrakt, sondern konkret zu betrachten, zumal sie offenbar immer noch das Potenzial zu wechselseitiger Hysterisierung birgt.

Welchen Nutzen könnten die Südtiroler aus ihrer doppelten Staatsbürgerschaft ziehen? Die Schwierigkeiten fangen schon mit der Frage an, wer heute überhaupt ein Südtiroler ist! Über die Jahrzehnte haben Abertausende Menschen, die in Südtirol leben, über die alte nationale Grenze hinaus geheiratet und Nachkommen gezeugt, die sich nur mittels familiärer Selbstverstümmelung so einfach für die italienische oder die deutsch-österreichische Seite entscheiden könnten. Zu erwarten ist außerdem, dass die doppelte Staatsbürgerschaft neue Zwietracht säen würde, und zwar keineswegs nur zwischen den italienischen und den ihrem Selbstverständnis nach österreichischen Bewohnern Südtirols, sondern auch zwischen diesen selbst.

Schon einmal ist die Volksgruppe davorgestanden, in Hass und Feindseligkeit auseinanderzubrechen. Das war, als Hitler und Mussolini sich darauf einigten, die deutschsprachigen Südtiroler vor die "Option" genannte Zwangsalternative zu stellen, entweder im Lande zu bleiben und sich zu assimilieren oder ins großdeutsche Reich auszuwandern. Die das Bleiben propagierten, verdammten die anderen als Verräter an der Heimat; die sich für das Wegziehen entschieden, geißelten die Daheimgebliebenen als Verräter am angestammten Volkstum. Der erbitterte Streit schnitt durch jedes Dorf und entzweite Familien, mitunter bis heute.

Selbst wenn ihnen amtlich bestätigt wird, immer noch und neuerdings wieder Österreicher zu sein, gewinnen die Südtiroler in Italien und in Europa damit kein Recht, das ihnen nicht ohnehin schon zusteht. Warum ein Problem aus dem Archiv der Geschichte holen, für das die Lösung längst bekannt ist, nämlich die europäische Staatsbürgerschaft für alle Bürger der Union? Der Versuch, die Regionen Europas neuerlich national zu fassen, fügt hingegen als Erstes diesen selbst schweren Schaden zu.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: