Kolumne:Singular

Emcke, Carolin

Carolin Emcke, 51, ist Autorin und Publizistin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Wer sich an das autoritäre Zerrbild der Terroristen anpasst, der hat schon verloren.

Von Carolin Emcke

Eine andere Frage ist, ob man sich wappnen kann, nein, vielmehr, ob man sich wappnen darf", schreibt die Dichterin Monika Rinck in ihrem wunderbaren Essayband "Risiko und Idiotie". Und sie fragt weiter, "ob die dünne Haut ein Privileg derer ist, die nicht zur Abhärtung gezwungen sind". Wie sehr wünscht man sich in diesen Tagen zu wissen, wie das gelingen könnte: sich zu wappnen, sich eine dicke Haut zuzulegen, eine, die einen schützen würde vor all der Gewalt, die einem auf den Leib rückt, und vor all den Forderungen, die an einen herangetragen werden, wie nun angeblich richtig zu reagieren sei, stark und unbeeindruckt, wehrhaft und unverändert. Eine Haut, so fest, dass die Furcht nicht darunterkriechen könnte.

Kollektive Gesten berühren, weil sie einen gegen die Furcht zu wappnen scheinen

Denn uneingestanden treibt sie doch viele um, die verschont wurden: die Sorge und die Skrupel, wie nun richtig weiterzuleben sei. Auf einmal erscheint alles falsch und unangemessen: das permanente, rastlose Aufsaugen der Nachrichten auf allen Kanälen ebenso wie das Ausblenden aller vorläufigen, ungesicherten Informationen. Das Hinschauen und das Wegschauen wirken gleichermaßen obszön, das Weitermachen-wie-bisher so unbeholfen wie das Nicht-Weitermachen. Jeder Satz, jede Beschäftigung wird im Angesicht des Terrors von Paris und Beirut (und all den anderen Orten) gewogen und für zu leicht befunden. Man ist zur Abhärtung gezwungen und weiß doch nicht, wie sie herzustellen wäre.

Vielleicht ist das der Grund, warum sich kollektive Gesten im ersten Moment so beruhigend ausnehmen. All die Bilder und Worte des solidarischen Beistands beeindrucken und berühren, weil sie einen zu wappnen scheinen. Sie helfen aus dem Gefühl der Ohnmacht, das die Attacken unwillkürlich in einem auslösen. Das gemeinsame Symbolhafte verspricht intuitiven Schutz. Darin lässt es sich einrichten, hofft man, im mutigen Pathos einer europäischen Einheit, die sich durch dumpf-hassende Kriminelle nicht verunsichern lassen oder verändern will - und macht dankbar mit.

Und doch lässt nun nach einigen Tagen die autosuggestive Wirkung nach, und mit der Trauer wächst auch das Unbehagen an der Rhetorik des eilig aufgestellten Wir, das eine politisch-konsensuelle Einheitlichkeit vorgibt, wo, aus historisch gutem Grund, keine existiert. Ist es nicht gerade das, was die dschihadistischen Täter ablehnen: die heterogene Vielfalt einer offenen parlamentarischen Demokratie? Verlangt ihr absichtsvoll undifferenziertes Weltbild nicht vor allem monolithe Kollektive, hier "rein", da "unrein", hier "gläubig", da "ungläubig"? Sind sie nicht gerade der apokalyptischen Vision der homogenisierten Gesellschaft eines Kalifats verfallen, das "gesäubert" sein will von allem Ambivalenten, Hybriden, von allem einzeln Abweichenden?

In einem legendären Gespräch mit Günter Gaus im Jahr 1964 sagte die Philosophin Hannah Arendt, man könne sich nur als das verteidigen, als das man auch angegriffen wurde. Wenn es aber die heterogene Zivilgesellschaft war, die angegriffen wurde, sollte sich dann nicht auch die Gesellschaft als zivile und heterogene verteidigen? Jede reflexhafte Einheitlichkeit erfüllt womöglich nur das unbewusste Kalkül der Verbrecher, die mit den Anschlägen vor allem ihre fatale Logik aus Identität und Differenz und jene Dynamik aus "Krieg" und "Ausnahmezustand" den hiesigen Gesellschaften aufzwingen wollten. Notstandsgesetze, wie jetzt von der französischen Nationalversammlung beschlossen, die maßgebliche Bürgerrechte einschränken, mögen aus der akuten Verzweiflung heraus verständlich sein, aber sie greifen damit auch jenen Kern des Rechtsstaats an, der zu eben dem gehört, was unbedingt verteidigt werden sollte. Wer sich wehrt und sich dabei lediglich dem autoritären Zerrbild derer anpasst, die ihn angegriffen haben, hat schon verloren.

Was es braucht als zivilgesellschaftliche Reaktion, ist stattdessen ein Plädoyer für den Singular, für das abweichende Individuelle, das einzigartige, zarte Subjektive, nicht zuletzt, weil es das ist, was dem terroristischen Wahn am meisten widerspricht. Es braucht ein Europa, das sich nicht aufspaltet in Muslime und Nicht-Muslime, sondern eines, das sich auffächert in eine unüberschaubare Vielfalt an einzigartigen, eben singulären Wesen mit einer unüberschaubaren Vielfalt an Eigenschaften jenseits von Herkunft und Glauben. Singuläre Individuen, die auf ihre je eigene Weise glauben, lieben, trauern; die furchtlos oder furchtsam weiterleben, die zustimmen oder widersprechen, und die sich nicht um jeden undemokratischen Preis wappnen wollen, weil eine dünne Haut vielleicht nicht schützt, aber auch nicht unempfindlich macht.

Das Singuläre ist keineswegs einfach bloß das egoistisch Einzelne, es beinhaltet und bedingt das Mit- und Füreinander. Das Individuelle, von dem hier die Rede ist, lebt nicht einfach bloß isoliert oder asozial, es sieht sich immer schon anderen Individuen gegenüber, an denen die eigenen Perspektiven und Wünsche sich brechen oder spiegeln. "Das Singuläre ist von vornherein jeder Einzelne, folglich jeder mit und unter allen anderen", schreibt der französische Philosoph Jean-Luc Nancy in "Singulär plural sein". Also: "Das Singuläre ist ein Plural." Nur wenn dieses vielfältige Singuläre geschützt und gefördert wird, kann ein Miteinander gelingen. Nur wenn nach wie vor jede Form des individuellen Einspruchs und Zweifels nicht nur gestattet, sondern erwünscht ist, ohne gleich der Verharmlosung von Terrorismus bezichtigt zu werden, kann die offene, plurale Gesellschaft geschützt werden. Und zu guter Letzt: Nur wenn das reflexhafte Einfordern von kollektiver Einigkeit wieder abebbt, werden auch jene Jugendlichen wieder als einzigartige Individuen wahrnehmbar, die sich womöglich noch ansprechen und abbringen lassen von der manipulativen Einladung der Dschihadisten, die Anerkennung und Sinn versprechen, wo nur Tod und Zerstörung warten. Auch sie können und müssen zu jenem singulären Plural gehören, der Europa ausmacht.

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