Kolumne:Schon wieder die?

Kurt Kister

Kurt Kister ist Leitender Redakteur und Autor der Süddeutschen Zeitung. Von 2011 bis zum Sommer 2020 war er auch deren Chefredakteur.

1998 zwang Helmut Kohl der CDU sich selbst noch einmal auf. 2017 muss das Angela Merkel wohl nicht tun. Und was steht bei Hemingway zur SPD?

Von Kurt Kister

Wer etwas älter ist, erliegt manchmal der Versuchung, dass er Dinge, die er selbst erlebt hat, für wichtig hält, schon allein deswegen, weil er sich an sie aus eigenem Erleben erinnert. Da ist etwa die Sache mit Helmut Kohl. Kohl regierte vom Spätherbst 1982 bis zum Herbst 1998, 16 Jahre lang, die erstaunlicherweise schon nach sechs oder sieben Jahren wie eine beginnende Ewigkeit wirkten. So wie es die Generation Golf gab, gab es auch die Generation Kohl. Sie ging zur Schule und machte Abitur, sie demonstrierte gegen Reagan und Raketen, sie hörte Pet Shop Boys oder Guns N' Roses - und immer, immer war Helmut Kohl Bundeskanzler.

Jetzt gibt es die Generation Merkel. Angela Merkel regiert seit Herbst 2005, und weil nicht nur der westdeutsche, hie und da ins Sektiererische lappende Teil der Linkspartei ein gutes Argument gegen Rot-Rot-Grün im Bund ist, könnte es sogar sein, dass Merkel 2017 wieder irgendwie Kanzlerin wird.

Ein Rückzug Merkels würde wohl dasselbe bedeuten, wie damals der Verbleib Kohls

Die Erinnerung. Als Kohl 1998 noch einmal zur Bundestagswahl antrat, erfreute er damit seinen Gegenkandidaten Gerhard Schröder sowie die kurzzeitig nahezu einige SPD deutlich mehr als seine eigene Partei. Die CDU hatte genug von Kohl, und sie hatte in der Person von Wolfgang Schäuble einen potenziellen Kanzlerkandidaten, der möglicherweise die Wahl noch einmal zugunsten der Union entschieden hätte. Kohl aber wollte nicht weichen. Und er war immer noch so stark, dass CDU und CSU sich grummelnd in Kohls Keiner-außer-mir-Beschluss dreinfanden. Schröder gewann die Wahl; ihm war bewusst, dass dies vielleicht mehr eine Entscheidung gegen Kohl war als für ihn.

Und heute? Beziehungsweise: und übermorgen, also 2017? Gewiss, es gibt eine laute Minderheit, die manchmal auch auf der Straße ruft: Merkel muss weg. Diese Minderheit aber ist nicht das Volk, auch wenn sich manche Völkische unter sie mischen. In der CDU selbst wiederum sind, gerade im Vergleich zu 1998, die Stimmen, die ein Ende der Ära Merkel fordern, sehr verhalten. Sogar in der CSU ist das nicht anders, obwohl die Seehoferisten jederzeit bereit sind, alles zu fordern, was ihre Sorge verkleinert, bei der Landtagswahl 2018 wegen der AfD in Bayern die absolute Mehrheit zu verlieren. Glaubte Seehofer, ein CSU-Generalsekretär aus Senegal, der gerne Fußball spielt, könnte dies verhindern, er würde ihn berufen.

Es ist eine seltsame Situation. Die Union einschließlich ihrer bayerischen Regionalabteilung möchte eigentlich keine andere Spitzenkandidatin, schon allein deswegen, weil fast alle wissen, dass ein Rückzug Merkels wohl dasselbe bedeuten würde wie damals der Verbleib Kohls. Anders als damals aber haben sie niemanden, der oder die in Ost und West, in Nord und Süd die Unionssympathisanten hinreichend motivieren könnte. Zu ihren guten Zeiten hat Merkel auch dafür gesorgt, dass ihre innerparteilichen Konkurrenten alles Mögliche wurden - nur keine Bedrohung für die Kanzlerparteichefin selbst. Als einzige starke Alternative gilt heute im Berliner Geraune Wolfgang Schäuble, der es vielleicht sein mag, aber nicht sein will. Die Tatsache, dass Schäuble seit einem Vierteljahrhundert in der CDU immer als die starke Alternative gilt, spricht Bände über die Union, Schäuble und auch über Merkel.

Merkels pragmatischer Wille zur Macht hat auch dazu geführt, dass sich die Partei ihr zwischen 2005 und 2015 noch willfähriger ergeben hat, als sie es bei Helmut Kohl tat. Die besten Argumente in der CDU für Angela Merkel waren stets ihr Erfolg nebst ihrer Popularität. Ersterer hat deutlich nachgelassen, letztere schmilzt dahin, und dennoch gibt es keinen neuen, sondern nur den alten Schäuble. Und es gibt vor allem auch keine andere Merkel, sondern bestenfalls einen Horst Seehofer, der, bundespolitisch gesehen, ein Edmund Stoiber minus Franz Josef Strauß ist, vielleicht aber auch nur ein Max Streibl plus Günther Beckstein.

Vermutlich haben viele in der Union das Gefühl, es bliebe der Partei gar nichts anderes übrig, als noch einmal mit Merkel in den Wahlkampf zu ziehen. Wahrscheinlich ist das auch so, zumal da Merkel sich nicht so wie Kohl in der Pflicht gegenüber sich selbst sieht, sondern gegenüber der Partei und wahrscheinlich sogar dem Land. Schließlich kommt sie aus einem protestantischen Pfarrhaus, noch dazu aus einem preußischen mit hanseatischem Migrationshintergrund.

Sollte also nicht etwas Unvorhersehbares passieren in den nächsten Monaten, werden alle Beteiligten das Unabwendbare, also die erneute Kandidatur Merkels, zur politischen Herzensangelegenheit erklären. Die CSU wird sich allein deswegen wieder beruhigen, weil Seehofer weiß, dass der von seiner Partei nebst ihren Alphatierchen geschürte Dauerstreit in der Union zu noch Schlechterem bei der Bundestagswahl führen kann. Und geht die Bundestagswahl für die Union 2017 ernsthaft daneben, dann besteht die Gefahr, dass die CSU 2018 bei der Landtagswahl unter 40 Prozent landet.

Eigentlich müsste diese Lage großartig sein für eine regierungswillige und -fähige Opposition. Ist sie aber nicht. Als Kohl und die Union 1998 nur 35 Prozent erzielten, kam die SPD auf 40,9 Prozent (in Worten: vierzig Komma neun). Ja, die Zeiten waren anders, Kohl war nicht Merkel, und Gabriel ist nicht Schröder (auch wenn er gerne ein Schröder-Avatar wäre). Aber die Volksparteien waren noch Volksparteien, wohingegen FDP, Grüne und Linke mit jeweils nicht sehr über der Fünf-Prozent-Grenze liegenden Ergebnissen in den Bundestag einzogen.

Die SPD war damals und wahrscheinlich zum letzten Mal in ihrer langen Geschichte ungefähr das, was jener Marlin war, bevor ihn der Fischer Santiago fing, wie man es in Hemingways "Der alte Mann und das Meer" lesen kann - ein großer, starker Fisch mit Kraft zum Kampf. Heute ähnelt die SPD eher jenem Marlin-Skelett, das die Haie übrig ließen, nachdem Santiago seinen großen Fang ans Boot gebunden hatte. Man ahnt immerhin: Das war einmal ein Marlin.

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