Kolumne:Rechte haben

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Carolin Emcke, 51, ist Autorin und Publizistin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. (Foto: Bernd Schifferdecker)

Im Antlitz der Geflüchteten lassen sich nicht nur deren Nöte, sondern auch die Widersprüche unserer eigenen Gesellschaft spiegeln.

Von Carolin Emcke

Historisch beispiellos ist nicht der Verlust der Heimat," schrieb die politische Theoretikerin Hannah Arendt in "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" im Jahr 1951, "wohl aber die Unmöglichkeit, eine neue zu finden." Das ließe sich heute angesichts des Flüchtlingsdramas vor Europas Küsten leider immer noch oder wieder sagen. Historisch beispiellos ist nicht der Verlust der Heimat: ob sie durch Krieg und Vertreibung zerstört (wie in Syrien), durch staatlichen Zerfall zerrieben (wie in Libyen) oder durch Dürre (wie in Eritrea) unbewohnbar gemacht wurde. Historisch beispiellos ist die Unmöglichkeit, eine neue Heimat in Europa zu finden, weil es nahezu unmöglich geworden ist, lebend und legal nach Europa zu kommen. "Es war kein Raumproblem," lautete Hannah Arendts so bittere wie aktuelle Analyse, "sondern eine Frage der politischen Organisation."

Kann Europa seine Werte nicht nur gegen, sondern auch für andere durchsetzen?

Es ist noch nicht ausgemacht, ob Europa die Frage der heutigen Heimatlosen nicht allein militärisch, sondern auch politisch zu organisieren gewillt ist. Das verlangte mehr, als sie nur vor dem elenden Krepieren zu retten oder die Grenzkontrollen jenseits der europäischen Grenzen ins Innere des afrikanischen Kontinents oder des Nahen Ostens zu verschieben. So ließen sich zwar die unschönen Lager und die Leichen aus dem eigenen Sichtbereich entfernen. Das könnte vordergründig die eigene Beschämung lindern, aber nicht die Armut, nicht die Not und nicht die Gefahren für die Geflüchteten.

Wenn die Frage der Heimatlosen ernsthaft politisch organisiert werden sollte, verlangte es mehr, als das Recht auf Asyl bloß zu simulieren. Es würde mindestens voraussetzen, dass Europa sich verabschiedet von "Dublin III", jener trügerischen EU-Verordnung Nr. 604/2013, wonach es angeblich gleich ist, ob ein Mensch zuerst in Bulgarien oder in Deutschland Recht auf Asyl beantragt, wonach die sozialen, medizinischen und psychologischen Standards der Betreuung von Geflüchteten in Ungarn oder Griechenland angeblich so gut sind wie in Schweden oder Frankreich. Das ist nicht erst seit der Schuldenkrise Europas und ihren sozialen und politischen Verwerfungen als Illusion entlarvt. Wer glaubt denn noch an das Versprechen der normativen Gleichheit in Europa außer jenen Geflüchteten, die selbst noch nie in Europa waren?

Vielleicht ist das der Grund, warum sich die Europäische Union mit der Flüchtlingsfrage so schwer tut: Nicht wegen der ökonomischen Bedenken, es könnte in Europa nicht genügend Arbeitsplätze oder in den überschuldeten Kommunen nicht genügend Wohnraum geben, nicht wegen der politischen Bedenken, Flüchtlinge beförderten mit ihrer Präsenz rechtspopulistische Bewegungen (so als seien sie schuld am Rassismus, der ihnen entgegenschlägt, und nicht die Rassisten); sondern weil die Flüchtlingsfrage in Wahrheit mindestens ebenso auf die ungelösten Fragen eines demokratischen Europas verweist wie auf die ungelösten Krisen in den Herkunftsländern.

Es ist die Figur des Flüchtlings, die uns zurzeit drängt, uns selbst klarer zu konturieren. Was für eine Gemeinschaft Europa sein will, zeigt sich daran, wie es mit denen umgeht, die ihre Hoffnung in Europa setzen ohne selbst Europäer zu sein. Wer wir sein wollen, entscheidet sich auch daran, wie wir jene behandeln, die uns brauchen. Ob Europa die Werte, auf die es sich gründet - Freiheit vor Unterjochung, Gleichheit vor dem Gesetz, Solidarität mit Schwächeren -nur gegen und nicht auch für andere zu verteidigen weiß, zeigt sich in der Figur des Flüchtlings. Wie ein medizinisches Kontrastmittel, das Strukturen und Funktionen des Körpers deutlicher erkennbar macht, lassen die Geflüchteten unsere eigenen politischen und moralischen Strukturen sichtbarer werden. Im Antlitz der Geflüchteten lassen sich nicht nur deren Nöte, sondern auch unsere Widersprüche spiegeln.

"Staatenlosigkeit in Massendimensionen hat die Welt faktisch vor die unausweichliche und höchst verwirrende Frage gestellt, ob es überhaupt so etwas wie unabdingbare Menschenrechte gibt", schrieb die jüdische Emigrantin Hannah Arendt, die 1933 aus Deutschland fliehen musste, staatenlos wurde und erst 1951 in den USA die amerikanische Staatsbürgerschaft erlangte. Arendt beschrieb diese Widersprüchlichkeit mit der berühmten Formel von dem "Recht, Rechte zu haben". Und daraus folgen auch heute immer noch so unausweichliche wie verwirrende Fragen: Was taugen die Menschenrechte, wenn sie doch einen Staat oder eine Staatengemeinschaft brauchen, der sie garantiert? Werden sie dann allen oder nur einer exklusiven Minderheit zugestanden, nur denen mit der richtigen Hautfarbe, der richtigen Religion, dem richtigen Geschlecht, der richtigen sexuellen Orientierung oder dem richtigen Pass? Wie demokratisch ist eine Demokratie, die manche ein- und andere ausschließt?

Seit der französischen Revolution hieß Demokratie im Kern Selbstgesetzgebung, also die Vorstellung, dass diejenigen, die von einer politischen Entscheidung betroffen sind, auch direkt oder indirekt an ihrer Entstehung beteiligt werden. Vielleicht ist das etwas, das die unzähligen Bürgerinitiativen und ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, die sich für Flüchtlinge engagieren, deutlicher empfinden als mancher Regierungschef: dass in der globalisierten Welt sehr viel mehr Menschen von unseren politischen, ökonomischen, vor allem auch ökologischen Entscheidungen betroffen sind als an ihrer Entstehung beteiligt sind.

Dieses demokratische Defizit einer Welt, die zwar ökonomisch verwoben und ästhetisch vernetzt ist, aber politisch sich nicht öffnen will, ist nicht leicht zu beheben. Aber wir sollten den Flüchtlingen dankbar sein, wenn sie uns daran erinnern, dass eine Demokratie und auch Europa keine abgeschlossenen Projekte sind. Eine demokratische Gesellschaft, ein aufgeklärtes, gerechtes Europa ist etwas, an dem gearbeitet und das nachgebessert werden muss. Womöglich helfen in diesem Sinne nicht allein wir den Geflüchteten, sondern sie auch uns.

© SZ vom 25.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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