Kolumne:Radiohören

Emcke, Carolin

Carolin Emcke, 51, ist Autorin und Publizistin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Das Rundfunk-Gerät ist das kostbare Instrument, über das sich klassische Musik am leichtesten und auf besonders inklusive Art und Weise verschenken lässt. Anmerkungen zum Streit um den Kanal BR Klassik.

Von Carolin Emcke

Was schlimm ist" heißt ein schönes Gedicht von Gottfried Benn. Es beginnt mit der Strophe: "Wenn man kein Englisch kann,/ von einem guten englischen Kriminalroman zu hören,/der nicht ins Deutsche übersetzt ist." In der Reihung schmerzlich unerfüllter oder unerfüllbarer Bedürfnisse folgt dann: "Bei Hitze ein Bier sehn,/das man nicht bezahlen kann." Und: "Einen neuen Gedanken haben,/ den man nicht in einen Hölderlin Vers einwickeln kann,/ wie es die Professoren tun." Was schlimmer ist, so ließe sich Benn angesichts der Misere beim Bayerischen Rundfunk ergänzen, wenn man kein digitales Radio besitzt, von einem exzellenten klassischen Musik-Programm zu hören, das nicht über UKW zu empfangen ist.

Vergangene Woche wurde bekannt, dass sieben die Musik liebende Menschen Klage eingereicht haben gegen den Beschluss des Bayerischen Rundfunks, dem Kanal BR Klassik im Jahr 2018 den Sendeplatz auf seiner UKW-Frequenz zu entziehen und dort stattdessen das BR-Jugendprogramm "Puls" zu präsentieren. Das klassische Musikprogramm soll von da an nur noch digital über Satellit, DAB plus und Internet zu empfangen sein - oder eben auch gar nicht, denn bislang hören gerade mal 2, 1 Prozent der bayerischen Bevölkerung digitales Radio. Die Klage, die vor den Bayerischen Verfassungsgerichtshof kommt, will einen Absatz des Bayerischen Rundfunkgesetzes für verfassungswidrig erklärt haben, der - so die Argumentation - im Widerspruch zum Rundfunkstaatsvertrag der Länder von 2009 stehe. Vor allem aber will sie die Entscheidung des Senders, die das klassische Musikprogramm faktisch unhörbar machen würde, revidiert sehen.

Was besonders verstört, ist die konstruierte Konkurrenz zwischen "Jugend" und "Klassik"

Der Plan des Bayerischen Rundfunks ist in so vielen Hinsichten gleichzeitig hanebüchen, dass sich all die Gründe, die dagegensprechen, kaum hierarchisieren lassen: Es ist nicht allein fraglich, ob das kaum verhohlene ökonomische Kalkül, mit dem Jugendkanal die sogenannten werberelevanten Zielgruppen anzusprechen, überhaupt ein relevantes Kriterium für eine öffentlich-rechtliche Anstalt sein sollte. Nur weil der Fetisch der Quote (oder seine rhetorische Hülle: die Reichweite) dauernd zitiert wird, ergibt sich noch kein triftiges Argument daraus. Quantität bezeugt an und für sich erst einmal nur Quantität. Sonst nichts. Es entspricht in Wirklichkeit auch nicht dem an die Gebührenfinanzierung gekoppelten Bildungsauftrag, das eigene grandiose Programm (und die Redakteurinnen und Redakteure, die es erstellen) absichtlich in die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit zu exilieren. Warum ein anspruchsvolles Programm nicht auch als ökonomische Strategie gedacht werden kann, wo es doch das ist, wofür die Sender bezahlt werden, bleibt ein Rätsel.

Was aber besonders verstört, ist die konstruierte Konkurrenz zwischen "Jugend" und "Klassik", die gegeneinander aufgestellt werden, als schlössen sie sich wechselseitig aus. Das klingt so, als würden die Entscheider den hauseigenen Kanal für klassische Musik mit den liebevoll gemachten Sendungen für Kinder und Jugendliche nicht einmal hören. Das klingt auch so, als wüssten sie nichts von all den Jugendlichen an Haupt- und Realschulen, die mit großem Engagement singen und musizieren, das klingt so, als wüssten sie nichts von all den Schülerinnen und Schülern an Musik-Gymnasien und von all den Programmen der Opern- und Konzerthäuser, die Jugendliche anlocken und sie einladen, das Hören zu lernen. Stattdessen wird fahrlässig nicht nur das alte Bild von klassischer Musik als bürgerlichem Privileg und Distinktions-Merkmal reproduziert, sondern es wird auch immer wieder jene soziale Kluft erzeugt, die man anschließend laut beklagt, um sich ihr schließlich leise zu beugen: zwischen denen, für die sich klassische Musik privat eröffnet und denen, für die sie sich nur über öffentliche Foren und schulische Einrichtungen erschließt. Wo das öffentlich-rechtliche Radio sich aus der leidenschaftlichen Vermittlung von klassischer Musik auch und gerade an Jugendliche oder junge Erwachsene zurückzieht, verkümmert die Klassik zwangsläufig zu einem abgeschlossenen Reservat für jene, die sich individuelle musikalische Bildung exklusiv leisten können.

In einem Interview im Jahr 2009 wurde die Pianistin Mitsuko Uchida einmal nach ihren kulturellen Wurzeln gefragt. Von ihrem Denken her sei sie Europäerin, neben Englisch sei ihr Deutsch sehr wichtig. "Um Johann Sebastian Bach zu verstehen, muss ich seine Sprache können (...) Wenn man deutsche Lieder ohne Wörterbuch verstehen kann, macht das einen riesigen Unterschied", erläutert Mitsuko Uchida und dann fügt sie hinzu: "Deutsch habe ich nicht erlernt, sondern erlebt."

Dieses Geschenk, eine Sprache nicht erlernen zu müssen, sondern sie erleben zu dürfen, gilt auch für die Sprache der klassischen Musik: sie nicht erlernen zu müssen, sondern sie erleben zu können, ihr so alltäglich ausgesetzt zu sein, von klein an, dass sie sich mit ihrer Grammatik und ihrem immer erweiterbaren Vokabular wie selbstverständlich einprägt - das ist es, was Rundfunkanstalten leisten könnten. Das Radio ist das kostbare Instrument, über das sich klassische Musik auf die leichteste und auf besonders inklusive Art und Weise verschenken lässt.

Es steht zu hoffen, dass sich der Bayerische Rundfunk noch einmal besinnt und sich nicht der eigenen Gaben beraubt. Ansonsten braucht es von 2018 an womöglich einfach einen Piraten-Sender für klassische Musik. Er könnte "Radio Freie Klassik" oder "Cool Classic Republic" oder "Sender ohne Intendanz" heißen und klassische Musik in all ihrer beglückenden Schönheit, aber auch subversiven Kraft zeigen. Ein kreativer, lebendig-anspruchsvoller Piraten-Sender für alle Generationen, der, wie Hans Blumenberg es einmal in seinen "Begriffen in Gedanken" formuliert hat, Bildung nicht als "Arsenal" begreift, sondern als "Horizont".

Falls ein solcher Sender eine mittelalte Kolumnistin bräuchte, wäre sie gewiss leicht zu finden.

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