Kolumne:Lügendetektor

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Mit immer raffinierteren Methoden versuchen wir, die Wahrheit zu finden. Gleichzeitig ist Lügen allgemein akzeptiert. Wie passt das zusammen?

Von Karl-Markus Gauß

Früher war alles einfacher und schwieriger zugleich. Im Gymnasium hatten wir einen despotischen Lehrer, der sich im Alleinbesitz der Wahrheit befand und, wenn es ein gravierendes Vergehen aufzuklären galt, die Verdächtigen unter den Schülern vor seinen Katheder zu rufen pflegte. "Ich frage Dich jetzt zum ersten und letzten Mal, ob Du es warst, der ...". Die Gesetzwidrigkeiten, um die es ging, reichten vom hinterlistigen Verstecken des Klassenbuchs bis zur unbeholfenen Applizierung obszöner Kreidezeichnungen auf der Tafel. Wer von dem Professor zu sich beordert und mit der berüchtigten Frage konfrontiert wurde, hatte, wenn er seine Schuld abstritt, einen doppelten Test zu bestehen: Erstens wurde ihm befohlen, dem Professor geradewegs ins Auge zu schauen, ohne den Blick auch nur kurz abzuwenden; und zweitens hatte er dieser Instanz der Wahrheitsfindung mannhaft die Hand zu reichen. Danach wurde das Urteil gefällt: Wer dem Blick auswich oder schweißnasse Hände hatte, der war als Übeltäter überführt und konnte seine Lage nur durch ein verspätetes Geständnis noch etwas bessern.

Vor ein paar Jahren habe ich zufällig einen Schulkameraden von damals getroffen, aus dem inzwischen eine honorable Gestalt der Gesellschaft geworden ist. Als wir ein paar Gläser tranken und über die alten Zeiten schwadronierten, gestand er mir, noch heute von der Vorstellung gepeinigt zu werden, sich durch einen feuchten Händedruck bei einem Geschäftspartner als Betrüger verdächtig zu machen. Dabei habe er schon vor 45 Jahren nicht deswegen feuchte Hände bekommen, weil er zu lügen beabsichtigte, sondern weil er fürchtete, gerade durch seinen Schweiß ebendiesen Eindruck zu erwecken.

Der längst ins Reich der ewigen Wahrheit abgetretene Professor war so etwas wie ein personifizierter Lügendetektor und völlig davon überzeugt, dass es ihm nicht um die Verbreitung von Furcht und Schrecken, sondern einzig darum ging, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Insofern verkörperte er im schulischen Milieu der Sechzigerjahre so etwas wie die Dialektik der Aufklärung, von der er im Übrigen nie etwas gehört haben mochte. Es fiel uns also damals gar nicht so leicht zu lügen, aber auch gar nicht leicht, nicht zu lügen.

Wer sich heute in ein Spielwarengeschäft begibt, findet dort neben viel schönem und viel dummem Zeug auch eine Anzahl von Lügendetektoren, mit denen er den lieben Kleinen eine Freude bereiten kann. Da gibt es Lügendetektoren für Kinder ab dem vierten Lebensjahr und allerlei Apparaturen für den "Partyspaß", den sich 15- bis 85-Jährige antun können. Vorsorglich wird dabei gewarnt, dass einige Produkte dieser Wahrheitsware für Epileptiker, Schwangere und Menschen mit labilem Kreislauf nicht geeignet sind. Denn es geht meist darum, die Spieler mit verfänglichen Fragen zu konfrontieren und mittels einiger Messgeräte, die an Finger und Brust anzulegen sind, gegebenenfalls der Lüge zu überführen und zum Gaudium der Mitspieler mit einem leichten Stromstoß zu bestrafen.

Die meisten dieser Spiele bauen noch auf dem Prinzip der alten mechanischen Lügendetektoren auf, für die der Fachbegriff Polygraf lautet, also "Vielschreiber", weil er körperliche Reaktionen wie Puls, Atemfrequenz, Blutdruck und Hautwiderstand aufzeichnet. In etlichen Ländern, vor allem in den USA, wurde und wird der Polygraf noch heute als taugliches Mittel kriminalistischer Untersuchung eingesetzt.

Die Technik des Gedankenlesens hat durch die Neurowissenschaft einen enormen Schub erfahren

Insgesamt aber hat der Polygraf in der wissenschaftlichen Welt ausgedient, da werden, wie an der Universität Bradford in Großbritannien, etwa "Lügenkameras" entwickelt, die an der Mimik den Wahrhaftigen vom Lügenhaften unterscheiden sollen. Natürlich hat die Technologie des Gedankenlesens mit den Neurowissenschaften einen enormen Schub erfahren. Es wäre ungerecht, den Neurowissenschaftlern insgesamt vorzuwerfen, dass es ihnen um den justiziablen Nutzen ihrer Erforschung des Kontinents Gehirn ginge; aber der Visionen und deliranten Utopien gibt es viele. Der erste Mensch, der nach einem Lügentest mittels einer Elektroenzephalografie, also der Vermessung seiner Hirnströme während des Verhörs, zu lebenslangem Gefängnis verurteilt wurde, war eine 24-jährige Inderin in Mumbai, die auf diese Weise vorgeblich überführt wurde, ihren Verlobten vergiftet zu haben (sie ist in einem späteren Verfahren freigekommen).

Ich habe nicht die fachliche Kompetenz zu beurteilen, ob die neuronalen Lügendetektoren eines Tages zu Hirnscans führen werden, die nicht nur beweisen, dass der freie Wille des Menschen eine überkommene humanistische Illusion war, sondern auch zweifelsfrei nachweisen, ob jemand gerade lügt oder nicht. Ich frage mich aber, wie das alles zusammengeht: der wissenschaftliche Erfolg bei der Suche nach dem neuronalen Wahrheitsbeweis - und der tägliche Erfolg in der politischen Lügenpraxis. Wenn wir heute ratlos vor einem Phänomen der Politik stehen, dann davor, dass es einem bestimmten Typus von Politiker keineswegs schadet, beim Lügen ertappt zu werden. War früher eine Karriere oft unvordenklich rasch zu Ende, weil eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens bei vergleichsweise lächerlichen, sein privates Leben betreffenden Ausflüchten erwischt wurde, ficht es die Popularität heutiger Haudegen nicht im geringsten an, wenn sie sich jeden Tag wieder als unverschämte und unverfrorene Lügner erweisen. Wo sich viele Leute um ihre soziale Sicherheit gebracht und ihre Zukunft betrogen fühlen, ist es ausgerechnet der Lügner, dem sie zutrauen, die ihnen verschwiegenen Wahrheiten aufzudecken

Den Kindern wird mit den Lügendetektoren aus dem Spielwarengeschäft eingeredet, man könnte die Lüge gewissermaßen technisch erkennen; die großen, ganz gescheiten Kinder der Wissenschaft vermessen die Areale des Gehirns mit unendlich genauen und komplizierten Geräten, um exakt den Moment zu entdecken, wo sich eine Lüge im Gehirn abzeichnet. Man könnte glauben, wir lebten im Zeitalter der Wahrheit; aber in Wahrheit wird so erfolgreich gelogen wie selten zuvor.

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