Kolumne:Kopf über Wasser

Emcke, Carolin

Carolin Emcke, 51, ist Autorin und Publizistin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Für Platon zählt das Schwim-men zu den Fertigkeiten, die ein Mensch zum Überleben braucht. Warum?

Von Carolin Emcke

Im babylonischen Talmud gibt es eine Passage, die die Aufgaben eines Vaters seinem Sohn gegenüber festlegt. Ein Vater ist demnach verpflichtet, ihn "zu beschneiden, ihn auszulösen, die Tora zu lehren, zu verheiraten und ein Handwerk zu lehren; manche sagen, auch schwimmen zu lehren." (Qidushin, 29a). Was mindestens auf den ersten Blick erstaunt an dieser Aufzählung ist die Unterweisung in die Kunst des Schwimmens. Warum wohl sollte das Schwimmenlehren zu den gewichtigen Pflichten eines Vaters zu zählen sein? Was ist es, das ein Vater seinem Sohn beim Schwimmen vermittelt, das es wert ist, in eine Reihe mit der Lehre der Tora gestellt zu werden?

Interessanterweise ist es nicht nur der Talmud, der dem Schwimmenlernen solche Bedeutung zumisst. Auch bei Platon gehört das Schwimmen zu den Elementarkenntnissen, das er in einer wunderbaren Wendung sprichwörtlich auf eine Stufe mit dem Lesen stellt: Unwissende sind ihm jene, "die weder schreiben noch schwimmen können" (Die Gesetze, III, 689). Vielleicht stimmt es, dass Lesen und Schwimmen uns ähnlich existenziell sind, denn den meisten ist das Lesenlernen so erinnerlich wie das Schwimmenlernen.

Es geht auch um den Augenblick der Trennung, also des Loslassens

Zu den vielen Dingen, die mein Vater mir nicht beigebracht hat, gehörte auch das Schwimmen. Das hat mein geliebter, älterer Bruder übernommen und es verlief, nun ja, eher suboptimal. Er saß auf einer Luftmatratze im Schwimmbad und lud mich ein, mit ihm auf die sichere Unterlage zu kommen. Ich war vermutlich vier, und er hatte mir bis dahin geduldig alle Bewegungen, die es brauchte, vorgemacht und ich hatte ihn so gut als möglich imitiert. Trotzdem konnte ich mich bislang nur mit Hilfsmitteln über Wasser halten. Ich stand am Beckenrand, ohne Schwimmflügel, und ahnte, als erfahrene jüngere Schwester, das Unheil.

Ich ließ mir zusichern, dass er mich nicht von der Luftmatratze schubsen würde, was mein Bruder sofort versprach, um kurzerhand tatsächlich nicht zu schubsen, sondern die Luftmatratze umzukippen. So hatte er zwar die Abmachung nicht gebrochen, aber ich ging unter. Anstatt zu schwimmen, tauchte ich die ganze lange Strecke bis zum Beckenrand und kam schließlich gleichermaßen wütend wie stolz und nach Luft schnappend wieder hoch. Genaugenommen war dies weniger eine Unterweisung im Schwimmen als eine im Tauchen - und eine Lektion darin, immer auf jedes einzelne Wort zu achten.

Was so existenziell ist beim Schwimmenlernen ist gewiss zunächst einmal die Beziehung, die es dafür braucht. Schwimmen lässt sich kaum allein lernen. Es braucht jemanden, der es einem vermittelt. Und ob Vater und Sohn, Mutter und Tochter oder Bruder und Schwester, in jeder Konstellation geht es beim Schwimmenlernen sowohl um den Prozess des Vormachens und Unterstützens als auch um den Augenblick der Trennung, also des Loslassens und Nichts-mehr-Zeigens. Das Schwimmenlernen braucht das Vertrauen darauf, gehalten zu werden, als auch das Vertrauen, dass der andere niemals früher losließe als zu dem Zeitpunkt, da man ohne Halt zu schwimmen in der Lage wäre. Und schließlich braucht es das Zutrauen und das Selbstbewusstsein, es letztendlich auch allein, unabhängig vom anderen zu können. Vielleicht ähnelt das Schwimmenlernen in dieser Hinsicht tatsächlich dem Lesenlernen oder sogar dem Studium der Tora.

Womöglich geht es dabei auch um die Bewegung selbst: zu lernen mit dem Körper in eine Flüssigkeit einzutauchen und nicht unterzugehen, die Arme und Beine zu koordinieren und trotzdem den Kopf so zu halten, dass sich atmen lässt, so im Wasser zu liegen, dass der Widerstand gering und die Fortbewegung möglichst schnell und leicht ist. All das taugt sicherlich als Übung, die auch für das Eintauchen in andere Materien hilfreich sein könnte. So wie sich zwar nur ein Mal das Lesen lernen lässt, aber damit nicht nur eine Sprache zu lesen ist. Vielmehr wiederholt sich auf wundersame Weise mit jeder neuen Sprache diese Übung des langsamen Dechiffrierens von Buchstaben und Bedeutungen, bis sie einen Sinn ergeben.

In einem grandiosen Text für das amerikanische Magazin The New Yorker im Jahr 2013 beschrieb der Pianist Jeremy Denk einmal unter dem Titel "Every good boy does fine" sein Leben in Klavierstunden. Anhand seines wiederentdeckten Klavierstunden-Notizbuchs aus Kindertagen erzählt Denk überaus amüsant von qualvoll-langweiligen Lektionen ("Benutz ein Metronom!", "Tonleitern klingen luschig") bei unterschiedlich begabten und exzentrischen Klavierlehrern. Bis er schließlich als junger Erwachsener in Bloomington, Indiana, bei dem großen ungarischen Pianisten und Professor György Sebők zu studieren beginnt. Es klingt, als habe Denk erst hier gelernt, was es heißt, ernsthaft zu musizieren. "Man unterrichtet nicht, wie man Klavier spielt", pflegte György Sebők zu sagen, "man unterrichtet, wie man übt - im täglichen Ritual der Entdeckung entsteht Lernen wirklich."

Vielleicht geht es beim Schwimmenlernen auch nicht ums Schwimmen. Vielleicht bringt ein Vater seinem Sohn nicht bei, wie man schwimmt, sondern wie man etwas lernt. In Zeiten wie diesen, in denen manche Bange machen wollen vor einer neu sich formierenden Einwanderungs-Gesellschaft, vor einer unsicheren europäischen Identität, tut es gut, sich daran zu erinnern. Es gibt keinen Grund in einer demokratischen Gesellschaft, ängstlich zu sein vor etwas, das wir noch nicht kennen: beim Schwimmenlernen haben wir erfahren, dass es sich lernen lässt, in eine neue Materie einzutauchen und sich in ihr zu bewegen. Dass es sich nicht allein, sondern nur gemeinsam lernen lässt. Soziales, demokratisches Miteinander in einer offenen, sich wandelnden Gesellschaft lässt sich auch nicht üben. Es lässt sich nur üben, wie es zu lernen ist. Im täglichen Ritual der Entdeckung. Ich bin nicht sicher, aber vielleicht ist es das, was Angela Merkel sagen wollte mit dem Satz: "Wir schaffen das." Vielleicht wollte sie sagen: "Wir lernen das. Wie wir lesen und schwimmen gelernt haben."

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