Kolumne:Kitsch

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Das Fernsehen tut so, als erreichten Berichte und Bilder von Naturkatastrophen oder Anschlägen nicht mehr unsere Gefühle.

Von Karl-Markus Gauß

Unlängst bot mir das österreichische Fernsehen ein Erlebnis heimeligen Erschreckens. Ich geriet in eine relativ neue Informationssendung, die "ZIB Magazin" heißt. Was die abendliche Nachrichtensendung "Zeit im Bild" von ORF 2 berichtet, pflegt das "Magazin" wenig später in ausgewählten Reportagen für das eher der Unterhaltung dienende Programm ORF 1 aufzugreifen. Diesmal wurde eine Reportage von dem Lawinenunglück gezeigt, bei dem im Januar ein Hotel in den Dolomiten überrollt worden war. 29 Menschen kamen dabei zu Tode. Zuerst sah man idyllische Bilder einer Landschaft im Schnee, dann hörte man die Stimme des Reporters, der sachlich über die Katastrophe berichtete, schließlich waren italienische Bergretter an der Reihe, die erschöpft von den Schwierigkeiten erzählten, überhaupt in das Innere des zerstörten Hotels vorzudringen und im Kampf gegen die Kälte und die Zeit nach Überlebenden zu suchen.

Nichts kann kaltherziger sein als die Aufrüstung der Sentimentalität

Dann aber folgten lange Kamerafahrten über den Schauplatz der Katastrophe - und mit einem Mal war elektronische Musik zu vernehmen. Den Kommentaren und den Bildern wurde Musik aus der Konserve zugespielt, nicht aufdringlich, doch unüberhörbar. Die Gestalter der Sendung waren offenbar davon überzeugt, dass weder die Worte über den Tod von Menschen noch die Bilder vom Unglücksort reichten, um das Publikum zu interessieren. Erst die Musik schien zu garantieren, dass die Zuhörer und Zuschauerinnen über Wort und Bild nicht in Langeweile verfielen, sondern bei der Sache blieben, einer Sache, bei der es immerhin um Leben und Tod ging.

Mich ergriff das beklemmende Gefühl, dass dieser Bericht, in dem keine falsche Information gegeben wurde, trotzdem auf eine Lüge gründete; auf die Lüge, das wir uns für das Schicksal von Menschen nur interessieren können, wenn wir mittels Musik in unserem psychischen Untergrund angesprochen, aufgewühlt werden. Die Art der Präsentation war auf Konsumenten zugeschnitten, die von einer Nachrichtensendung nicht Informationen, sondern Impressionen, nicht sachliche Gedanken, sondern starke Gefühle erwarten.

Später am Abend wurde ich zum empörten Zeugen, wie diese gestalterische Strategie sich erheblich verschärfte. In einem deutschen Sender sah ich einen aus Anlass eines Jahrestages gestalteten Bericht, der dem Leben und Sterben in einem Konzentrationslager gewidmet war, der Erinnerung an die Hunderttausenden, die dort ermordet wurden, dem Aufruf, sich heute und künftig dem unfassbaren Geschehen zu stellen. Die Tendenz des langen Berichts war löblich, und nach den Reden heutiger Honoratioren wurden historische Filmsequenzen gezeigt, in denen Leichenberge ermordeter Juden zu sehen waren, ebenso die ausgezehrten Gestalten der Überlebenden, die wankend in einem Elendszug aus der Hölle herausgeführt wurden.

Doch dann geschah das Unerträgliche, an das wir uns gewöhnt haben. Dem langsamen, vor über siebzig Jahren mit wackeligen Kameras aufgenommenen Schwenk über die Ermordeten und die Überlebenden wurde Musik von heute zugespielt, Musik so elegisch, wie Synthesizer und elektronische Maschinen sie nur herzustellen vermögen. Und unaufhaltsam wurde der Schauplatz realen Schreckens von im Studio hergestellten Kitsch durchdrungen. Ich möchte nicht behaupten, dass die Gestalter der Sendung nicht warnen, anklagen, aufklären wollten, aber die Erschütterung, um die es ihnen ging, dachten sie anders als mit Musik jedenfalls nicht mehr bewirken zu können.

Was bedeutet das? Die Musik sagt nichts anderes, als dass wir von Leichenbergen und Elendsgestalten nicht zu rühren sind. Dass die Nachricht von ungeheuren Verbrechen und ungeheurem Leid alleine nicht ausreicht. Dass Schauplatz und Menschen nicht genügen, unser Herz und unseren Verstand zu erreichen. Dass es also um die gefühlige Aufbereitung geht, mit der wir von all dem Kenntnis erhalten. Damit aber wird die Wahrheit der Ereignisse, an die erinnert und vor denen gewarnt werden soll, verleugnet und verraten. Verraten an die Sentimentalität, und nichts kann kaltherziger sein als die Aufrüstung der Sentimentalität! Das Grauen muss überboten werden, nicht nur im medialen Prozess der permanenten Überbietung des Schlimmen durch das Schlimmere, sondern auch, indem es den Kitsch als Verstärker nützt.

Mediale Überbietung ist das eine. Wir sind süchtig nach ihr, die Dosis der täglichen Katastrophe muss ständig gesteigert werden, damit wir mit ihr auskommen. Die letzte Frage, die Moderatoren an Reporter zu stellen pflegen, die von verheerenden Anschlägen, verlustreichen Naturkatastrophen berichten - zuverlässig lautet sie geradezu hoffnungsvoll: "Müssen wir mit noch mehr Opfer rechnen?"

Das andere aber ist, dass selbst jenes Grauen, das durch nichts mehr zu überbieten ist, erst mittels des Kitsches zum erschütternden Erlebnis der Zuseher und Zuhörer wird. Wenn die Kamera durch die Ruinenlandschaft von Mossul fährt, werden die Aufnahmen unausweichlich durch eine paar Takte düsterer Trauermusik, wie die Musikindustrie sie in Serie auswirft, verstärkt - und trivialisiert. Und wir sind wieder jenem Prozess der Überbietung ausgesetzt, der das Leiden steigert oder gnadenlos sentimentalisiert.

Aber werden wir damit tatsächlich empfänglicher für den Schrecken? Nein, die Zerstörung, Gewalt, Grausamkeit wird fortwährend gesteigert, damit ihre Vermittlung noch bis zu uns durchzudringen vermag, und gerade deswegen dringt sie nicht mehr zu uns durch. In dieser Eskalation geht es nicht mehr um Aufklärung, sondern um Verrohung. Und am Ende sind wir erschüttert, nicht weil fremdes Leid uns ergreift, sondern weil die Musik uns rührt; und wir weinen, weil wir, gnadenlos geworden aus Sentimentalität, von einer Musik bewegt werden, die aus beliebigen Anlässen zu Herzen geht. Dies ist die tägliche Lehre der Abstumpfung, mit der wir traktiert werden und traktiert werden wollen.

© SZ vom 11.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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