Kolumne:Geschichtspolitik

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Norbert Frei ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena und leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. (Foto: N/A)

Wenn Diktatoren über Geschichte befinden, wird es schlimm. Aber auch in der Demokratie sollten sich Politiker damit zurückhalten.

Von Norbert Frei

Viele, vielleicht sogar die meisten Historiker werden nach wie vor nervös, wenn Politiker sich anschicken, mit Geschichte Politik zu machen. Ich finde das beruhigend. Während die gesellschaftliche Nachfrage nach historisch-politischer Aufklärung zu schwächeln scheint, ist es in den vergangenen drei Jahrzehnten zur weithin akzeptierten Gewohnheit geworden, dass sich Regierende - nicht nur in Deutschland - als Initiatoren historischer Museen, Denkmäler oder Gedenktage zu profilieren suchen. Und dies, obwohl derartige Ambitionen nur allzu oft zu kaum wieder einzufangenden politischen Peinlichkeiten, ja sogar zu internationalen Verwicklungen führen. Man denke nur an das Desaster um das von Erika Steinbach gegen alle begründeten Einwände vorangetriebene "Zentrum gegen Vertreibungen", das nun irgendwann in einem Bundesmuseum enden soll.

Nie wurde in der Bundesrepublik mehr über Geschichte gestritten als unter Helmut Kohl

Geschichtspolitische Totalschäden oder Beinahe-Havarien galten lange als deutsche Spezialität - unschön, gewiss, aber doch erklärlich angesichts der harten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um den angemessenen Umgang mit unserer nationalsozialistischen Vergangenheit. Über die wurde, so viel ist im Rückblick klar, nie zuvor und nie mehr danach heftiger gestritten als während der Kanzlerschaft Helmut Kohls. Wobei der promovierte Historiker immer wieder selbst die Anlässe lieferte: mit missverständlichen Worten wie jenem von der "Gnade der späten Geburt" 1984 in Israel, mit falschen Gesten wie jener auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg am 5. Mai 1985, vor allem aber mit präzedenzlosen Museumsplänen. Als Kohl 1998 schließlich abgewählt wurde, reichte der Stein gewordene Teil seiner geschichtspolitischen Bilanz von der Gründung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn über die Umgestaltung der Neuen Wache und des Deutschen Historischen Museums in Berlin bis hin - eine erstaunliche persönliche Kehrtwende angesichts seiner früheren Aversionen gegen das Holocaust-Museum in Washington - zur Zustimmung zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

Weniger spektakulär, aber nicht weniger grundlegend war die intellektuelle Positionsverschiebung, die unter dem Druck der Kohl'schen Initiativen stattfand: Noch Anfang der Achtzigerjahre waren sich Politik und Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik recht einig in der Überzeugung, dass die kritische - und mit Blick auf die NS-Zeit meinte das ja stets: die selbstkritische - Auseinandersetzung mit der Geschichte zuerst Sache der Gesellschaft, nicht des Staates sei. Diesen Konsens hatte Kohl durchbrochen. Mit dem Ziel historischer Sinnstiftung aus dem Kanzleramt heraus begann die Karriere des Neologismus "Geschichtspolitik"; von Kohls Gegnern kritisch gemeint, gebrauchten ihn Kohls Unterstützer bald auch zustimmend.

Seither sehen sich Historiker, denen der bis dahin ungebräuchliche (unterdessen aber auch im Kontext der DDR-Geschichte übliche) Begriff weiterhin schrill in den Ohren klingt, dem Vorwurf ausgesetzt, sie wollten nur ihr Terrain verteidigen. Dabei weiß jeder, dass in heutigen Mediengesellschaften - zum Glück - niemand die Deutung von Vergangenheit monopolisieren kann. Sehr wohl allerdings lässt sich Geschichtspolitik in den Dienst der Antiaufklärung stellen.

Ein brutales Beispiel dafür ist gegenwärtig in Danzig zu besichtigen. Dort war auf Initiative des liberalkonservativen Ministerpräsidenten Donald Tusk 2008 mit der Planung eines modernen, auf internationale Besucherströme ausgelegten Museums zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs begonnen worden, das erstmals die Erfahrung der Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt rücken sollte. Wissenschaftlichen Gepflogenheiten entsprechend, zog der weltgewandte junge Direktor Paweł Machcewicz historische Experten, Museumsfachleute und Ausstellungsmacher nicht allein aus Polen bei, sondern aus ganz Europa, Israel und den USA.

Und in erstaunlicher Geschwindigkeit entwickelte er mit seinem Team eine beeindruckend multiperspektivische Konzeption für das expressive, auf der Brachfläche der ehemaligen "Großen Gasse" heranwachsende Gebäude. Ein Begleitprogramm machte das Projekt seit Jahren bekannt. Auch deshalb lieferten Menschen von überall her persönliche Erinnerungsstücke ein und bereicherten damit die auf 5000 Quadratmetern entstehende Ausstellung. Seit deren Eröffnung vor einem Monat sind bereits 50 000 Besucher gekommen.

Doch der Gründungsdirektor ist inzwischen gefeuert. Hintergrund der Entlassung von Machcewicz und zweien seiner Stellvertreter ist weder irgendein Fehlverhalten noch gar mangelnder Erfolg. Der Vorwurf lautet Kosmopolitismus. Genauer gesagt: Die Danziger Schau beschäftigt sich nach Meinung der Regierenden in Warschau zu wenig mit dem Leid der Polen, zu viel mit dem Holocaust und überflüssigerweise auch noch mit anderen von Deutschland im Zweiten Weltkrieg überfallenen Völkern. Schon im Sommer vorigen Jahres - also ohne die Ausstellung gesehen zu haben - hatte ein Abgeordneter der rechtsnationalen Pis (Recht und Gerechtigkeit) verkündet: Die Polen hätten ein Recht darauf, dass in Polen errichtete Museen die polnische Perspektive einnehmen. Viel mehr an geschichtspolitischer Borniertheit ist schwer vorstellbar.

Gemeint ist mit solchen Sätzen, dass alles zu unterbleiben hat, was das holzschnittartige Selbstbild einer Nation der Märtyrer und Opfer beeinträchtigen könnte. Graustufen und Zwischentöne gelten als Manie westlicher, im Zweifel jüdischer Liberaler. Selbstkritische Debatten über die Vergangenheit, wie sie im postkommunistischen Polen vor 15 Jahren geführt wurden - zum Beispiel über Jedwabne, wo im Sommer 1941 polnische Bürger unter den Augen der deutschen Besatzer ein Massaker an ihren jüdischen Nachbarn angerichtet hatten -, sind heute unerwünscht.

Wie es mit dem aufgeklärten (Anti-)Kriegsmuseum weitergeht, ist offen. Zeiten der Gegenaufklärung sind Zeiten strammer Geschichtspolitik.

© SZ vom 29.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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