Kolumne:Europa

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Der Westen hat sich stets für das wahre Europa gehalten. Doch es ist falsch, borniert und gefährlich, Osteuropa zu dämonisieren und dessen Länder als Block zu betrachten.

Von Karl-Markus Gauß

Es stimmt, der Westen Europas hat am Osten schon einmal mehr Freude gehabt als jetzt. Etwa 1989, als die Bürger zwischen Sofia, Tallin und Prag aufbegehrten und es nicht länger hinnehmen wollten, dass ihre Staaten unter sowjetische Kuratel gestellt waren. Das hat vielen bei uns so gut gefallen, dass sie von der Heimkehr des Ostens nach Europa zu schwärmen begannen. Wo hatten die Rumänen und Bulgaren, die Tschechen und Polen, die sich nun auf dem Weg zurück nach Europa befanden, denn vorher gelebt - in Asien? Nein, als Wunschbild und Wahnvorstellung war "Europa" stets kleiner und größer zugleich als der Kontinent, der diesen Namen trägt. Und der eine Teil Europas, der sich nach 1945 als Westen zu bezeichnen und mit Demokratie, sozialer Marktwirtschaft, Freiheit zu identifizieren begann, hat sich bereits lange vorher für das ganze und wahre Europa gehalten.

Dass sich Europa erschafft, indem es ein Anti-Europa entwirft, daran ist nichts Verwerfliches

Es ist eine prägende Konstante unserer Geschichte, dass dieses Europa seiner Prinzipien, Werte, Eigenheiten nur innewerden kann, wenn es eine Gegenwelt findet oder erfindet, die ihm fremd und gefährlich oder so bedauernswert rückständig erscheint, dass sie zum Objekt paternalistischer Unterstützung taugt. Dass sich unser Europa selbst erschafft, indem es zugleich ein Anti-Europa entwirft, daran ist übrigens nichts Verwerfliches: Um zu einem Bewusstsein seiner selbst zu gelangen, muss man tatsächlich auch erkennen und erspüren, was man alles nicht ist. Dieses Anti-Europa wurde im Lauf der Jahrhunderte religiös, kulturell, politisch häufig anders definiert, und auch der Verlauf der Grenzen mochte sich im Einzelnen ändern. Immer aber schnitten sie durch den Kontinent selbst, und unser Europa, das sich nacheinander als Abendland, als Reich der Rechtgläubigen, der Aufklärung, des bürgerlichen Fortschritts, der Herrenmenschen, der überlegenen Ökonomie, der Demokratie empfand, hat das andere Europa gewissermaßen in ein Asien der ewigen Rückständigkeit verwiesen.

1989 jedoch waren die Osteuropäer willkommen, und bald stand als konkretes Ziel die Osterweiterung der Europäischen Union an; diese war eher eine Westerweiterung, ging es doch darum, dass der Westen seinen Wirtschaftsraum tief in den Osten hin erweitere und dort auch seine rechtsstaatliche Verfassung und liberale Kultur etabliere. Das ließ sich der Westen einiges kosten, sodass für alle möglichen - darunter viele niemals verwirklichten - Projekte enorme Summen in die ost- und mitteleuropäischen Staaten transferiert wurden; im Gegenzug konnten westliche Firmen dort gewaltige Gewinne einstreichen.

Mit der Zollfreihandelszone, die so entstand, schien für manche fast das glückselige Ende der Geschichte gekommen zu sein, das auf der anderen Seite des Atlantiks gerade ein bald von der Realität blamierter Politikwissenschaftler ausgerufen hatte. Lange wurden im Jubel über die Erfolgsbilanzen daher die Verluste kleingeredet, mit denen jene erkauft waren, etwa die reale Verarmung, ja Entvölkerung ganzer Regionen im Osten. Paradoxerweise waren es erst die Flüchtlinge von außerhalb, die die Widersprüche innerhalb Europas schlagend ans Licht brachten.

Seither hat der düstere Mythos des Ostens eine erstaunliche Wiedergeburt erfahren oder besser: erlitten. Fast wie früher scheint er im Westen als monolithischer Block wahrgenommen zu werden, in dem sich homophobe, verstockt unaufgeklärte Nationalisten gegen das europäische Einigungswerk verschwören und drauf und dran sind, Europa in den Abgrund zu reißen. Und es ist tatsächlich blamabel, wenn ausgerechnet Länder wie Polen oder Ungarn, die periodisch Abertausende ihrer Bürger zu politischen Flüchtlingen oder Wirtschaftsemigranten machten, nun ihre Grenzen schließen - jetzt, wo es einmal darum geht, dass sie Menschen nicht verjagen, sondern aufnehmen sollen.

Dennoch ist es falsch, borniert und gefährlich, den Osten zu dämonisieren und die Vielzahl seiner Länder zu einem Block zusammenzufassen. Falsch ist es, weil von Bulgarien bis Litauen eben keine Allianz der Nationalisten besteht, selbst wenn in den einzelnen Staaten ähnliche Probleme ähnliche Politiker hervorgebracht haben, deren Nationalismus in der Regel darauf zielt, die soziale Frage zu ethnisieren. Wie das, übrigens, auch im Westen von rabiaten wie moderaten Politikern getan wird. Sieht man von Ungarn ab, wo der aggressiv nach innen wirkende Nationalismus erschreckend große Teile der Gesellschaft schon fast zur Hetzmasse deformiert hat, haben sich die Bevölkerungen der ost- und mitteleuropäischen Länder bisher keineswegs gleichschalten lassen.

Borniert ist die Dämonisierung, weil es von selbstgefälliger Realitätsverweigerung zeugt, die Gefährder der Union gewohnheitsmäßig in den kleinen, wirtschaftlich schwachen Ländern des Ostens zu suchen, statt dort, wo sie ebenso zu finden sind, nämlich im Westen. Ich meine hier gar nicht Parteiführer wie Marine Le Pen oder Geert Wilders, die vorgeben, Europa zu schützen, indem sie verächtlich machen, was unseren Kontinent gerade auszeichnet; vielmehr denke ich an jene Gewinnler von selbstverursachten Krisen, die beim politischen Hochamt gerne die europäischen Werte beschwören, aber im strategisch geführten Kampf um den Profit alles dafür tun, dass aus der Wirtschafts- nur ja keine Sozialunion werde. Gefährlich schließlich ist der Affekt, sich selbst zu erhöhen, indem man den anderen in die moralische Nichtigkeit hinabdrückt, weil mit ihm der Zerfall der Union gewiss nicht aufgehalten werden kann. Der Wunsch vieler Osteuropäer, endlich einmal Herren im eigenen Haus zu sein, ist zwar historisch überholt, weil der Nationalstaat ihre Probleme nicht mehr zu lösen vermag, aber er ist vor dem Hintergrund ihrer historischen Erfahrungen auch nicht ganz unverständlich. Man sollte ihm nicht selbstgefällig mit dem Dünkel westlicher Überlegenheit begegnen. Zumal gilt: Auch der Osten hat schon einmal mehr Grund gehabt, sich des Westens zu erfreuen.

Karl-Markus Gauß, 62, ist Schriftsteller, Essayist und Kritiker und gibt die Zeitschrift Literatur und Kritik heraus. Er lebt in Salzburg.

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