Kolumne:Enttäuscht

Frei

Die demokratischen Parteien müssen sich mehr um die "Enttäuschten" kümmern, heißt es jetzt. Das ist fraglos richtig. Aber sie dürfen dabei nicht das Spiel der Rechten mitspielen.

Von Norbert Frei

Die Wähler der AfD, so kann man derzeit überall lesen, seien von der Politik "enttäuscht". Einmal ganz abgesehen davon, dass sich niemand für die Gefühle derer zu interessieren scheint, die gerade deshalb enttäuscht sind, weil so viele die Rechten gewählt haben: Was eigentlich ist mit dieser Diagnose erklärt? Dass sie jenen gefällt, ja geradezu Behagen bereitet, die dem schrecklichen Gespann Gauland/Weidel vor drei Wochen ihre Stimme gegeben haben, macht sie noch nicht respektierlich. Im Gegenteil steht zu vermuten, dass die vermeintlich so plausible Erklärung kaum mehr ist als eine Ausrede: leicht dahingesagt und trotzdem nicht ganz einfach zu parieren.

Die Geschichtswissenschaft kann dabei vielleicht ein wenig behilflich sein, ist doch die Bedeutung von Emotionen, im Alltag wie in der Politik, seit einiger Zeit zu einem intensiv beackerten Forschungsfeld geworden. Historikerinnen und Historiker, beileibe nicht allein in Deutschland, interessieren sich vermehrt dafür, welche Handlungsmacht von Gefühlen ausgeht - von ausgesprochenen wie von unausgesprochenen, von lauthals bekundeten wie von eher unterdrückten und überhaupt erst zu entschlüsselnden. Eine Form von Emotionalität, der sie bevorzugt nachspüren, ist jene der Enttäuschung, gerade auch in und von der Politik.

Hinter "Enttäuschung" steht oft eine vordemokratische Vorstellung von Politik

Enttäuschung in der Demokratie ist selbstverständlich nichts, was erst mit dem Aufstieg der AfD in die Welt gekommen wäre; sie ist oft die Voraussetzung von Protest und vermutlich so alt wie die Demokratie selbst. Gleichwohl hat ein Münchner Zeithistoriker erst unlängst am Beispiel der bundesdeutschen Friedensbewegung der Achtzigerjahre demonstriert, wie trefflich sich Enttäuschung als Politikressource einsetzen lässt.

"Das Leiden an der Unfähigkeit, die hohen ideellen Ansprüche in der eigenen Friedensarbeit einzulösen", so Bernhard Gotto mit Blick auf die Demonstranten, die damals gegen die Nachrüstung der Nato protestierten, "war eine Dauererfahrung der Engagierten". Dieses Scheitern im Alltag habe oftmals tiefere Enttäuschung hervorgerufen, "als politische Misserfolge oder geringe Resonanz." Parallel dazu allerdings entwickelten die Gegner des Nato-Doppelbeschlusses, die sich nicht selten über viele Jahre (und am Ende erfolglos) dafür engagierten, dass in der Bundesrepublik keine neuen Atomraketen stationiert würden, ganz eigene Strategien der "Autoimmunisierung gegen Enttäuschung". Genauer gesagt: Sie verstanden es, ihre politischen Erwartungen und Erfolgsvorstellungen herunterzuschrauben - und geduldig dicke Bretter zu bohren, zumal dann nach dem Einzug der Grünen in den Bundestag 1983. In den Worten des Forschers: "Die Friedensaktivisten lernten, dass sich die Demokratie nicht so schnell verändern ließ."

Ruhige Reflexion und langer Atem sind nun so ziemlich das Gegenteil dessen, was plausibel für sich in Anspruch nehmen kann, wer am 24. September aus "Enttäuschung" für die AfD gestimmt hat. Das gilt ganz besonders für jene fast 1,2 Millionen ihrer Unterstützer, die aus dem Lager der Nichtwähler kamen. (Die meisten vormaligen Nichtwähler, nämlich fast zwei Millionen, lockten jedoch die Unionsparteien an, allerdings bei gleichzeitiger Abwanderung von mehr als 1,6 Millionen ihrer Wähler zu den Nichtwählern und einer Million an die AfD.) Wer vor vier Jahren nicht zur Wahl gegangen ist, obwohl er schon damals sein Kreuz bei der AfD hätte machen können, der müsste eigentlich erkennen, dass seine Enttäuschung über die bisher im Bundestag vertretenen Parteien nicht sehr glaubhaft wirkt.

Aber das gilt eben nur dann, wenn wenigstens im Nachhinein Logik und Vernunft eine Chance bekommen, gar nicht erst zu reden von staatsbürgerlichem Verantwortungsbewusstsein (ich weiß, ein großes Wort, aber auch Ausdruck eines schönen Privilegs, an das hin und wieder erinnert werden darf).

Tatsächlich spricht einiges dafür, dass die Behauptung, von "der" Politik enttäuscht zu sein, vielfach vor allem Wut und Hass verbergen soll. Wer Enttäuschung bekundet, der bringt sein Gegenüber in die Defensive, ohne selbst aggressiv zu erscheinen. Das gelingt umso besser, wenn zugleich fehlende "Anerkennung" beklagt wird: des eigenen Schicksals, der eigenen Lebensleistung oder von was auch immer.

Die politischen Parteien sollten Grenzen des politisch Zumutbaren definieren

Anders als angesichts der besonders hohen Wahlerfolge der AfD in den ostdeutschen Ländern vielfach zu lesen, wird dieses passiv-aggressive Spiel mit der Enttäuschung auch im Westen gespielt. Die brisante Mischung aus Elitenskepsis und Staatsgläubigkeit mag im Osten stärker verbreitet sein als in der alten Bundesrepublik, wo die antiautoritäre Bewegung der Sechzigerjahre vieles hinweggefegt hat, was an unaufgeklärtem, obrigkeitsstaatlichem Denken nach 1945 sich erst einmal hatte halten können. Aber unmündige, vordemokratische Erwartungshaltungen an die Politik gibt es - immer noch oder schon wieder - überall. Wer versucht, sich solchen Ansprüchen anzudienen, der programmiert den nächsten Ausbruch von "Enttäuschung".

Wohlgemerkt: Die kommende Bundesregierung kann und sollte eine Menge machen, um jenen zu helfen, die sich zu Recht benachteiligt fühlen. Das sind im Zweifelsfall allerdings weder die Merkel-muss-weg-Schreier noch die soignierteren Wähler der AfD, sondern Menschen, die schon lange überhaupt nicht mehr zur Wahl gehen und die auch vor drei Wochen zu Hause geblieben sind. Daneben aber müssen die demokratischen Parteien auch Grenzen deutlich markieren: die des politisch Machbaren wie jene des politisch Zumutbaren in der Demokratie. Und es darf die Auseinandersetzung mit den Parolen der Rechtsradikalen, die sich "Deutschland zurückholen" wollen, als gehöre es ihnen, nicht allein der Zivilgesellschaft überlassen werden - auch wenn wir natürlich alle gefordert sind.

Wer erst einmal begriffen hat, dass Enttäuschung eine Politikressource darstellt, die im Kampf gegen die Demokratie genauso eingesetzt werden kann wie im aufrichtigen Bemühen um ihre Verbesserung, der wird genauer hinsehen: Nicht jeder Enttäuschte verdient Verständnis, mancher erfordert auch klaren Widerspruch - und niemand sollte sich in der Demokratie ermutigt fühlen, in Enttäuschung zu verharren.

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