Kolumne:Eingepreist

Kolumne: Norbert Frei ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena und leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Norbert Frei ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena und leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.

"Die Wirtschaft" gibt es nicht. Aber in der Wirtschaft gibt es zu viele, denen die Zukunft der Demokratie nur ein Kalkulationsfaktor ist. Ist das nun kaltschnäuzig oder dumm?

Von Norbert Frei

In einer Welt, die aus den Fugen geht, sucht der nicht völlig abgebrühte Anleger mehr noch als früher nach Sicherheit. So jedenfalls scheint man in der Investmentbranche zu kalkulieren, die - eine Dekade nach dem letzten großen Crash - nun auch den von jahrelangen Nullzinsen frustrierte Sparer zu locken sucht. Mittel der Wahl sind dabei nicht mehr nur lancierte, als Nachrichten getarnte Elogen auf Aktienfonds und schnöde Verkaufsprospekte auf Anteile an Windparks oder Fluggerät. Hinzugekommen sind edel aufgemachte, "exklusive" Kundenmagazine, deren Lektüre sich für Anleger womöglich ökonomisch, für alle anderen wenigstens politisch lohnt.

"Megatrends: Anlegen in einer Welt im Wandel", lautete in einem dieser Gratishefte die Überschrift, bei der ich unlängst hängen geblieben bin. Der kurze Text versammelt Informationen über technologische, demografische und soziokulturelle Entwicklungen unserer Gegenwart, die keinem halbwegs aufmerksamen Zeitungsleser entgangen sein können, die an dieser Stelle aber, auf dass sie noch der Unbedarfteste verstehe, ein zusätzliches Schaubild in eine scheinbar klare Ordnung bringt. Irritierend an der Darstellung ist nicht nur, dass ihr namenloser Autor offenbar glaubt, von allen aufgezählten "Megatrends, die unsere Welt unaufhaltsam verändern", lasse sich eine Spalte "Politische Veränderungen" fein säuberlich separieren. Mehr noch ins Auge springt gleich der erste Eintrag unter dieser Rubrik: "Abschied von klassischer Demokratie".

Ist das nun, so fragt man sich, der versehentlich gewährte Einblick in die Arbeits- und Denkweise des die Gegenwart in Tabellenform zwingenden Investmentbankers? Oder ist es der demonstrative Ausdruck jener vorgeblich illusionslosen Kaltschnäuzigkeit, mit der die Branche ihre nach "realistischer Analyse" verlangenden Kunden zu beeindrucken sucht? Man weiß nicht, was man für schlimmer halten soll: mit wie viel politischer Borniertheit oder mit welcher Nonchalance ein solches Schema die Demokratie zum Auslaufmodell erklärt.

Gewiss, in letzter Zeit mehren sich die filmischen und literarischen Auseinandersetzungen mit der digitalisierten Finanzindustrie. Was in den Achtzigerjahren, als die Branche aufblühte und das hergebrachte Genre der Tycoon-Story aus der Welt des alten Wirtschaftens sich neu erfinden musste, im Stile einer noch stets etwas frivolen Geschichte aus New York daherkam ("Wall Street", "Fegefeuer der Eitelkeiten"), das spielt mittlerweile, eher düster als glamourös, auch in Frankfurt oder London. Aber damals wie heute bleiben die meisten dieser Plots an der zweifelhaften Oberfläche des schnellen, reichen Lebens ihrer Protagonisten - oder sie verlieren sich in deren abgründigem Seelenleben. Einen kritisch sezierenden Blick auf ihre professionellen Praktiken findet man - nach der jeweils letzten Krise - am ehesten in aktuellen Dokumentationen. Doch auch dort ist mir noch kein Hinweis auf ein Geschäftsgebaren begegnet, welches das Ende der "klassischen Demokratie" unverhohlen einzupreisen sucht.

Was angesichts einer solchen Entwicklung augenscheinlich nottut, ist eine öffentliche Debatte, die sich nicht, wie in der Wirtschaftsberichterstattung in der Regel der Fall, auf gleichsam systemimmanente Kritik beschränkt, wenn in den Sky Offices der Finanzindustrie mit Systemüberwindung gerechnet wird. Statt alle Aufmerksamkeit auf die jeweils neuesten Skandale und Betrügereien zu lenken, ist viel grundsätzlicher zu fragen: nach dem Selbstverständnis einer Branche, die schon oft genug peinliche politische Erbötigkeit, ja Geringschätzung für die Demokratie unter Beweis gestellt hat. Man denke nur an das apologetische Geschwätz über "Asian Values" in den Neunzigern oder an die noch immer nicht ganz abgestorbene neidvoll-blinde Begeisterung für die Wachstumsraten der chinesischen Volkswirtschaft.

Am Ende freilich geht es nicht allein um die Gordon Gekkos des 21. Jahrhunderts. Die Herren (inzwischen vereinzelt auch Damen) des Investmentbankings sind ja nur die Vorhut eines globalen Kapitalismus, der darauf zielt, sich aller staatlichen Einhegung zu entledigen. Wo, wenn nicht in Europa - unter den Bedingungen einer zweifellos in die Krise geratenen, aber noch lange nicht abschiedsreifen "klassischen Demokratie" - sollte es gelingen, dessen Repräsentanten an die Interessen unserer Gemeinwesen und an ihre sich daraus ergebenden Pflichten zu erinnern? Denn frei nach dem klugen, auf den freiheitlichen säkularen Staat gemünzten Wort von Wolfgang Böckenförde gilt auch für den Spätkapitalismus: Er "lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann" - und für die eine funktionierende Demokratie allemal die "nachhaltigere" Gewähr bietet als die autoritären Systeme im wachsenden Rest der Welt.

Nicht nur die Finanzindustrie, alle "Global Players", die hierzulande Geschäfte machen wollen, sollten energischer als bisher darauf verpflichtet werden, ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt zu leisten. Dazu gehört nicht nur, dass Mitarbeiter anständig entlohnt und Steuern dort bezahlt werden, wo Gewinne entstehen; dazu gehört auch das Eintreten für die Werte und Normen der Demokratie. Es mag ein Anfang sein, wenn Joe Kaeser auf die menschenfeindliche Demagogie einer Alice Weidel treffend repliziert: "Lieber 'Kopftuch-Mädel' als 'Bund Deutscher Mädel'." Aber mit einer Twitter-Zeile ist es bei Weitem nicht getan. Demokratiepolitisches Engagement verlangt mehr als das Schielen auf das "Ansehen unseres Landes in der Welt", das den Siemens-Chef erklärtermaßen bewog.

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