Kolumne:Diktat des Tabus

Emcke, Carolin

Carolin Emcke, 51, ist Autorin und Publizistin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Wer nicht aussprechen will, dass die Armenier vor 100 Jahren einen Völkermord erlitten haben, der zwingt sie, das Leid immer wieder neu zu durchleben.

Von Carolin Emcke

Ein Wort geht um und schreckt auf. Der Papst hat es ausgesprochen. Das Europäische Parlament hat es ausgesprochen. Nur die Regierungskoalition in Berlin scheut sich und legt den Mitgliedern des deutschen Parlaments nahe, das Wort bloß nicht in einer offiziellen Erklärung zu verwenden. "Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren" heißt der vorläufige Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen, über den nächste Woche der Bundestag debattieren soll. Das Wort, das darin fehlt, könnte auch als "Das-Wort-das-die-türkischeRegierung-echauffiert" bezeichnet werden. Auf Armenisch heißt es tsghaspanutiun.

Wer aber das Wort nicht aussprechen will, sollte zumindest wissen, was so beschwiegen wird. Wer den Begriff meidet, dem sollte eine Beschreibung dessen zugemutet werden, was tabuisiert wird. "Die armenischen Männer, die verhaftet wurden, wurden in Hölzer eingeklemmt, die Füße mit Nägeln beschlagen wie Pferde, die Barthaare, die Augenwimpern, die Nägel an den Fingern und die Zähne rausgezogen, sie wurden mit den Füßen nach oben gehängt (. . .) und dergleichen." So berichtete die schwedische Krankenschwester Alma Johansson, die von 1901 bis 1915 in einer Mission in Muş lebte. Und als ob sie befürchtete, ihre Aussage könnte bezweifelt werden, fügte sie noch hinzu: "Natürlich sind viele dabei gestorben, aber manche haben doch überlebt und konnten ärztlich versorgt werden und so haben wir diese Verletzungen zu sehen bekommen." Das ließe sich womöglich noch als Gewaltexzess, als Folter oder als Pogrom, armenisch: yeghern, bezeichnen.

Es geht nicht nur um Verbrechen anderer, sondern auch um das eigene Wegschauen

"Überall auf den Straßen lagen die Leichen", berichtete Leslie A. Davis, von 1914 bis 1917 amerikanischer Konsul in Harput, "Das ganze Land war ein einziges Leichenschauhaus, oder, um es korrekter zu sagen: ein Schlachthaus." Das ließe sich womöglich noch als Massaker, armenisch: chart bezeichnen.

"Es wurde nicht festgestellt, ob jemand der Teilnahme an irgendeiner gegen die Regierung gerichteten Bewegung schuldig war", meldete Oscar Heizer, der amerikanische Konsul in Trapezunt von 1915 bis 1917, an seine Botschaft in Konstantinopel, "es genügte, Armenier zu sein, um als Verbrecher behandelt und deportiert zu werden." Wie aber sollte das zu bezeichnen sein? Artikel II der entsprechenden Konvention der Vereinten Nationen von 1948 definiert "das-Wort-das-die-türkische-Regierung-echauffiert" als Handlungen, begangen in der Absicht, "eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören."

Alma Johansson, Leslie A. Davis und Oscar Heizer gehören zu den historischen Zeugen, deren Beschreibungen der Dokumentarfilmer Eric Friedler in Archiven weltweit aufgespürt und in seinem preisgekrönten Film "Aghet" zu einem erschütternden Dokument zusammengefügt hat. Aghet, das ist das armenische Wort für "Katastrophe".

Aber es geht nicht nur um Worte. Bei Worten geht es niemals nur um Worte. Wer sich dem Diktat des Tabus beugt, wer beschweigt, was den Armeniern angetan wurde, wer nicht aussprechen will, dass es sich dabei um einen Völkermord handelt, der wiederholt sprachlich die armenische Erfahrung der Negation. Im Moment des Erinnerns wird exakt das verdrängt, dessen gedacht werden soll. "Es gibt keinen Genozid ohne Leugnung", schreibt Marc Nichanian, Professor für armenische Sprache und Literatur an der Columbia University New York. "Mehr noch: Das Wesen des Genozids ist die Leugnung."

Solange der Völkermord an den Armeniern nicht so genannt wird, so lange müssen die Armenier beweisen, was ihnen widerfahren ist: Wieder und wieder müssen sie Belege anführen, wie das Osmanische Reich von christlichen Armeniern "gereinigt" wurde, müssen wiederholen, wie armenische Frauen vergewaltigt, armenischen Kindern die Hände abgehackt, armenische Familien, Männer wie Frauen, massakriert und auf Todesmärsche getrieben wurden. Solange der Völkermord an den Armeniern nicht anerkannt wird, so lange werden Armenier eingeschlossen in einer endlosen Zeitschleife, sie werden gebunden an die schreckliche Tat, die sie beweisen müssen - und so werden sie am Trauern gehindert.

Es mag gute Gründe geben, die befreundete türkische Regierung nicht diplomatisch bedrängen zu wollen. Eine ernsthafte Kultur des Erinnerns an historische Verbrechen lässt sich nur schwer von außen verordnen, wenn die Schuld nicht verstanden oder eingestanden wird. Aber muss man sich deswegen als Parlamentarier der Bundesrepublik das eigene Denken und Sprechen versagen? Gibt es neben der Verbundenheit mit der türkischen Regierung nicht auch eine Verbundenheit mit den Armeniern und all jenen in der türkischen Zivilgesellschaft, die ihr Leben und ihre Freiheit riskiert haben, indem sie sich der Verantwortung des Erinnerns an den Völkermord an den Armeniern stellen? Gewiss, die Abgeordneten des deutschen Bundestags sind nach Artikel 38 des Grundgesetzes nicht an Weisungen gebunden, sondern allein ihrem Gewissen verpflichtet. Aber gibt es nicht auch eine Pflicht dem eigenen historischen Wissen gegenüber, die vor bestimmten Formen nicht nur ethischer, sondern auch analytischer Selbstverstümmelung bewahren sollte?

Beim Gedenken an den Genozid an den Armeniern ist schließlich nicht allein die Rolle des Osmanischen Reiches, sondern auch die eigene Rolle zu vergegenwärtigen. Das Tabu verdrängt nicht nur das Verbrechen der anderen, sondern auch das eigene Wegschauen. Friedrich Freiherr Kress von Kressenstein, von 1915 bis 1917 Kommandeur des Deutsch-Türkischen Expeditionskorps, beschrieb die damalige deutsche Haltung so: "Wir Deutschen, Soldaten und Zivilisten, fanden es unbegreiflich und waren empört darüber, dass die deutsche Regierung nicht von den Türken abrückte, sondern durch ihr Stillschweigen uns Deutsche gewissermaßen in moralische Mitschuld nahm."

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