Kolumne:Beiläufig

Emcke, Carolin

Carolin Emcke, 51, ist Autorin und Publizistin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Eskapismus ist nur ein larmoyantes Konzept. Es gibt bessere Rezepte für düstere Zeiten.

Von Carolin Emcke

Du weißt ja, ich halte nur die nebensächlichen Dinge für erzählenswert, also Beiläufiges, Wunderbares," schrieb der Schweizer Schriftsteller Jörg Steiner auf einer seiner bezaubernden Postkarten, die in dem Buch "Im Sessel von Robert Walser" gerade erschienen sind. Dann fügte er hinzu: "Zum Beispiel, dass mir heute eine Taube über den Weg lief, die einen grausamen Zug um den Schnabel herum hatte." An manchen Tagen oder Wochen wünsche ich mir auch, dass einem das besser gelänge: sich dem Zugriff der dramatischen und traurigen Ereignisse zu entziehen und sich dem Beiläufigen, Nebensächlichen zu widmen.

Manchmal zögert man, die Nachrichten zu schauen, nur um sich vor dem Zuviel zu schützen

An manchen Tagen schnürt einem der Kummer und die Not (ob in der Ferne oder ganz nah) die Kehle zu. Man merkt es daran, dass man abends spät, vorm Ins-Bett- gehen, zögert, Nachrichten zu hören oder in die Post zu schauen, als ob sich so wenigstens die Nacht schützen ließe vor dem Zuviel. Als könnte man sich so wappnen gegen die Bilder aus Aleppo oder die Meldungen von neuen Anschlägen auf Flüchtlingsheime oder einem weiteren tiefen Unglück, das zu betrauern wäre. Dann taucht der Wunsch nach so etwas wie dieser Taube auf, etwas Nebensächlichem, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht, obgleich es um nichts geht, obgleich nichts Existenzielles davon abhängt, obgleich es nur so etwas Winziges ist wie der Zug um den Schnabel dieses mürrischen Federviehs.

Nun gibt es verschiedene praktische Möglichkeiten, aus der Wirklichkeit zu flüchten: Manche Menschen neigen zum Eskapismus ins Ordentliche. Ihnen dienen häusliche Übersprungshandlungen als Fluchthelfer: Dann wird auf einmal eifrig geputzt und sortiert, umgeräumt und entsorgt, so als ob sich die innere Sorge äußerlich einhegen ließe. Manche Menschen wiederum neigen zum Eskapismus ins Grobe. Als ob sich Kriege und Katastrophen dadurch beseitigen ließen, dass gegen die Opfer polemisiert wird. Als ob komplexe Aufgaben gelöst würden, indem man sie ideologisch so vereinfacht, dass sie alle Kontur verlieren. Als ob die eigene Verwundbarkeit weniger spürbar würde, wenn nur ausreichend andere auch verletzt werden.

Eine andere bevorzugte Variante ist der Eskapismus ins abseitig Nerdige, also das genussvolle Abtauchen und Ausleben entlegener Liebhabereien: auf Eurosport abends spät Fußballspiele wie Guaraní gegen Independiente de Valle in der ersten Runde im "Copa del Libertadores" schauen. Oder, noch besser, sich im endlosen digitalen Angebot der New York Public Library verlieren: der dort eingestellten "American Popular Song Collection" samt Noten, oder der Sammlung von Miss Frank E. Rudolph (1850 - 1924), deren Passion darin bestand, Menü-Karten zu sammeln, oder den wunderbaren zoologischen Sammlungen wie den 463 Bildtafeln der "Birds of Europe". Eine Taube mit grausamem Zug um den Schnabel ist nicht dabei, aber wer lange genug schaut, entdeckt dort eine Steppen- oder Blassweihe, die tatsächlich recht streng wirkt, eine Langohr-Eule, die lustig-auffordernd daherkommt, und überhaupt eine so prächtige Vielfalt an Vogelarten, dass jedes noch so winzige Detail ihrer Krallen, ihrer Schwänze, ihrer Flügel und ihrer Schnäbel keineswegs mehr nebensächlich ist.

So führt die Achtsamkeit für das Detail geradewegs zurück in die Wirklichkeit und hellt sie auf. Vielleicht ist es das, was Jörg Steiner meinte, als er von den nebensächlichen Dingen, "also" dem Wunderbaren erzählen wollte. Vielleicht wollte er mit diesem "also" sagen, dass jedes Ding, jedes Detail betrachtet werden kann und muss, weil sich nur im vermeintlich Belanglosen das Überraschende, das Erstaunliche, das Wunderbare entdecken lässt. Die Taube war insofern keine Aufforderung zum geistigen Fliehen, sondern im Gegenteil eine Aufforderung, sich der Welt mit allem darin zuzuwenden.

Diese Woche ist das besonders gut gelungen - an einem Abend, der eigentlich düster zu werden versprach: Es war ein Gespräch über Syrien im "Radialsystem", einem Veranstaltungszentrum in Berlin, das die Choreografin Sasha Waltz initiiert und arrangiert hatte mit einem Blick für jene beiläufigen Details, die sonst oft vernachlässigt werden. So gab es für die Zuhörer und Zuhörerinnen, mindestens die Hälfte davon syrische Flüchtlinge, Tee in Samowaren, nach der Diskussion auf dem Podium wurde arabisch gekocht und gemeinsam gegessen. Einige von den Flüchtlingen begannen ihre Anmerkungen mit einer Zahl: "Seit 55 Tagen bin ich hier...", "vor 162 Tagen bin ich angekommen ...", "seit 420 Tagen ..." was immer Trauriges sie danach zu erzählen hatten, blieb hinter dieser Zahl zurück. Es konnte alles heißen: 55 Tage ohne Fassbomben, 55 Tage an einem Ort, an dem es Strom gibt, 55 Tage in der Schlange vor dem berüchtigten LaGeSo, 55 Tage allein ohne Eltern.

Eskapismus, so wurde schnell deutlich an diesem Abend, Eskapismus ist ein larmoyantes Konzept, das jene, die wirklich geflohen sind, nicht begreifen können. Es erscheint ihnen nicht nur abwegig, es ist ihnen schlicht nicht gegeben. Ein Satz wie "Wir schaffen das" käme ihnen nicht in den Sinn, weil es für sie gar keine Alternative dazu gibt. "Wir schaffen das nicht"- wann hätten sie das sagen sollen? Auf der Flucht durch die Ägäis? Bei ihrer Ankunft hier in Berlin? Nach 55 Tagen im Heim? Nach 162 Tagen ohne Bescheid über ihren Asylantrag? Stattdessen steckten an diesem Abend sie, die wirklich Grund zur Trauer hätten, alle anderen an: mit ihrer Bereitschaft, im Nebensächlichen das Wunderbare zu entdecken. Am Ende saßen alle beisammen, auf Kissen, Stufen und auf Stühlen, es wurde nicht nur geredet, sondern auch zugehört. Irgendwann schob jemand einen Flügel in die Mitte und es wurde musiziert. Noch später fanden sich noch die Spielerin einer orientalischen Laute und ein Gitarrist zusammen und spielten und sangen, im Wechsel mit dem Publikum, bis spät in die Nacht.

"Ich habe ihr ein bisschen ins Gewissen geredet," heißt es bei Jörg Steiner auf derselben Postkarte über die Taube mit dem grausamen Zug um den Schnabel, "bis sie, wie mir schien, nachdenklich davonflog."

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