Kolumne:Anfangen

Emcke, Carolin

Carolin Emcke, 51, ist Autorin und Publizistin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Wer etwas neu beginnt, der begibt sich ins Instabile hinein. Er muss denken und handeln ohne Geländer. Das ist ebenso furchteinflößend wie inspirierend.

Von Carolin Emcke

Anfangs scheint einem das Anfangen am schwersten," schreibt die Dichterin Ingeborg Bachmann in ihrer zweiten Frankfurter Poetik-Vorlesung, "hat man aber erst einmal (. . .) begonnen, (.. .) so stellt sich das Weitergehen als noch schwieriger heraus." Trotzdem oder gerade deswegen bieten sich das Jahr hindurch immer wieder Gelegenheiten, bereits vorgezeichnete Schwellen des Abschieds oder des Übergangs, an denen sich das Anfangen üben und feiern lässt. Dabei gibt es den Anfang nicht einmal, als Beginn eines linearen Fortgangs, sondern als sich wiederholender Punkt, jedes Jahr wieder, als stete Einladung, etwas erneut zu versuchen - wie der natürliche Kreislauf der Jahreszeiten, der nach jeder Ernte mit der nächsten Aussaat und dem nächsten Frühling einen neuen Beginn verspricht.

Hinter religiösen Feiertagen stehen häufig überlieferte Geschichten vom Aufbruch

Und so nehmen wir auch die Einladung an Silvester an, jedes Jahr, ertragen mehr oder minder duldsam den Lärm, der darum und damit gemacht wird, und überlegen, was vom neuen Jahr zu fürchten und was zu hoffen wäre, was es bräuchte, damit es denn wirklich anders, leichter, versöhnlicher werden könnte als das zurückliegende. Nicht nur für einen selbst, sondern auch für jene Freunde und Verwandten, denen das vergangene Jahr besonders arg mitgespielt hat und denen schlicht die Kraft oder der Glaube fehlt, sich auf etwas zu freuen, für die ein Anfang aber umso nötiger wäre.

Auch die alten Überlieferungen, von denen uns die religiösen Feiertage erzählen, sind voll von Geschichten, in denen dem Einzelnen oder einer Gemeinschaft das Anfangen nicht nur verkündet, sondern aufgetragen oder ermöglicht wird. Anders als die zeitgeistige Vorstellung von permanenter Selbstoptimierung, die vor allem den Zwang zur wettbewerbstauglichen Anpassung meint, verweisen die alten Geschichten auf eine Idee des dissidenten Anfangens. Sie erzählen vom kollektiven Auszug aus der Unfreiheit oder von der individuellen Läuterung und erinnern darin an den widerständigen Mut der vielen oder die selbstkritische Nachdenklichkeit des Einzelnen.

Vielleicht hören sie deswegen nicht auf zu berühren, weil sie immer auch die Hoffnung nähren, sich befreien zu können von dem, was einen belastet oder beschränkt, von dem, was einen kleiner, ärmer, feiger sein lässt, als es möglich wäre. Vielleicht behalten sie deswegen auch noch solche unverbrauchte Wucht, diese alten Geschichten, weil sie davon erzählen, wie sich auch etwas zurücklassen lässt: wer man einmal war oder was einen verformt hat. Nicht Gefangene der eigenen Geschichte oder Herkunft sein zu müssen, sich auflehnen zu können gegen ein entfremdetes Leben, gegen entrechtete Verhältnisse, darin liegt das wundersame Versprechen dieser Erzählungen von Neuanfängen. Mit derselben Freude erleben wir oftmals auch fiktive Figuren in der Literatur, im Theater oder im Film, wenn sie ins Offene, noch Unbestimmte sich wagen und uns vormachen, wie das gehen könnte: frei zu sein oder tapfer.

Die Idee des Neuanfangs beschränkt sich nicht auf einen ritualisierten Tag, ein Ereignis oder das eine besondere Fest im Jahr, sondern sie stellt sich als menschliche Möglichkeit immer. "Weil jeder Mensch aufgrund des Geborenseins ein initium, ein Anfang, ein Neuankömmling ist, können Menschen Initiative ergreifen", schreibt die Philosophin Hannah Arendt in "Vita activa" und ergänzt: Sie können "Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen". In diesem Sinne wohnt das Anfangen nicht nur großen, dramatischen Wendungen inne, es scheint potenziell in jeder menschlichen Tätigkeit auf, in jedem Handeln, das sich der Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit entzieht. Initiative zu ergreifen, etwas anzufangen, heißt aber auch - darauf verweist Hannah Arendt - "Anfänger zu werden". Wer etwas neu beginnt, kann sich nicht auf sich, die eigene Erfahrung oder früheren Status verlassen. Das kennt, wer sich von einer Krankheit oder einem Verlust erholen muss, in einen anderen Job versetzt wird oder sich neu verliebt hat. Wer neu anfängt, begibt sich ins Ungewisse, auch Instabile hinein, er muss denken und handeln ohne Geländer. Das ist so furchteinflößend wie inspirierend.

"Als ich anfing, mit Harun zu arbeiten, wusste ich von der ersten Sekunde an, dass es das Glücklichste ist, was man sich vorstellen kann", so beschrieb der wunderbare Regisseur Christian Petzold in einem Gespräch für das Onlineportal Planet Interview die Zusammenarbeit mit dem 2014 verstorbenen Autor und Filmemacher Harun Farocki, aus der einige der großartigsten Filme der jüngeren Filmgeschichte entstanden sind. "Es war ein gemeinsames Gehen und Erfinden, Irrwege beschreiten und Sinnloses aneinanderreihen, Spaß und Witze und Wendungen wegschmeißen und dann den Kern finden."

Dieses gemeinsame Gehen und Erfinden, von dem Christian Petzold hier spricht, markiert nicht nur eine offensichtlich besonders schöne und kreative Freundschaft, sondern benennt zugleich, woraus die soziale Praxis einer gelebten Demokratie besteht. Irrwege beschreiten und Sinnloses aneinanderreihen, Gesetzesentwürfe und Haushaltsvorlagen wegschmeißen und dann den Kern finden - das beschreibt die Aufgabe und Möglichkeit der offenen, liberalen Demokratie zutreffender als manch andere Erläuterung.

Eine Demokratie erstickt, wenn sie dominiert wird vom rückwärtsgewandten Dogma angeblich gefestigter, starrer Identität. Sie lebt nur im mutigen Probieren ins Unbestimmte hinein, indem jede Generation wieder das an Werten und Überzeugungen befragt und sich aneignet, was überliefert wurde, indem sie zurücklässt, was nicht taugt, weil es nicht gerecht oder nicht inklusiv genug ist, Neues erfindet oder entdeckt - und den Kern sucht. Das setzt allerdings eine öffentliche Kultur voraus, in der blinder Furor und Hass nicht als hinreichender Grund für irgendwas gewertet wird. Wieder zu lernen, einander zuzuhören und gemeinsam zu denken - das wäre mal ein Anfang, den zu wagen und zu feiern sich wirklich lohnen würde.

Frohes neues Jahr.

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