Kolumne:Alle gegen alle

Mit ihrer Agitation gegen den Islam und andere Minderheiten setzen einige Politiker einen rüden Ton. Damit legitimieren sie eine illegitime Wut.

Von Jagoda Marinic

Bis vor Kurzem war Deutschland eines der wenigen mächtigen Länder in Europa ohne rechte Kräfte im Parlament. Im Ausland wurde man oft auf diese bemerkenswerte Tatsache angesprochen: "Gerade ihr in Deutschland!" Ich war stolz auf dieses Deutschland. Unermüdliche Demokratinnen und Demokraten, Zeitzeugen, Politiker, Lehrer, Leiter von Institutionen und Vertreter der Zivilgesellschaft hatten es zu einer wehrhaften Demokratie gemacht.

Natürlich, das Deutschland der letzten Jahrzehnte war kein perfektes Land: Es gab Rostock, Solingen, Hoyerswerda. Es gab die Morde des "Nationalsozialistischen Untergrunds" und ihre unbefriedigende Aufarbeitung. Es gab Kanzler Schmidt und Kanzler Kohl, die beide nicht viel Empathie zeigten gegenüber den Einwanderern, die Deutschland gerufen hatte. Doch so wie die Kirche nicht aus dem Papst allein besteht, besteht Deutschland nicht nur aus den Regierenden. In der Breite war der Wille zum Zusammenleben da. Viele packten in direkter Nachbarschaft an. Auch deshalb ist - ohne explizite Integrationspolitik - die Integration der ersten Einwandergenerationen in weiten Teilen gelungen. Obwohl Deutschland eine Zeit lang als "kranker Mann" Europas galt, gelangten die Rechten nicht in den Bundestag. Mit einer bestimmten Tonart, die an die Weimarer Republik erinnert, war in Deutschland nicht langfristig Karriere zu machen.

Das hat sich gewandelt. Es formieren sich neue rechte Kräfte, und der Umgang der etablierten Parteien mit ihnen und ihren Wählern wird immer unbeholfener. Man kopiert sogar Programm und Wortwahl und kann doch das Abdriften nicht aufhalten. Wer polarisierende, harte Worte wählt, kommt in den Bundestag und wird von dort aus medial maximal verstärkt. Der raue Ton wird zum Grundakkord. Teile der Medien scheinen wie erotisiert zu sein von dem Wiederaufstieg der Rechten: unzählige Homestorys mit Hochglanzbildern, Ästhetisierung des rechten Nachwuchses auf eine Art, als sei die neue Rechte ein Ableger der FDP. Sobald ein Rechter schreit, man beschneide seine Meinungsfreiheit, darf er daraufhin minutenlang in Mikros reden. Es gibt jedoch kein Grundrecht darauf, die eigene Meinung medial verstärkt zu bekommen. Jene, die friedlich im Hintergrund für den sozialen Zusammenhalt arbeiten, genießen dieses Privileg auch nicht.

Man sollte in diesen Zeiten Walter Lippmanns "Public Opinion" wieder lesen. Ein Buch von 1922. "Die wirkliche Welt ist zu groß, zu komplex und zu sehr im Fluss befindlich, um Menschen direkt zugänglich zu sein." Stattdessen konstruiere sich der Mensch eine Pseudoumwelt, um mit seiner Umgebung schlichtweg auch nur fertig zu werden. Die Fiktion wird zur Lebenswelt der meisten Menschen. Die mediale und politische Repräsentation dieser Welt spielen eine entscheidende Rolle dafür, was der Einzelne denkt, in welcher Welt er lebt. Diese Fiktion lenkt das Verhalten der Einzelnen. Es ist kein Zufall, dass die Rechten sich vor allem damit befassen, Herr darüber zu werden, welche Fiktionen im Umlauf sind.

In Deutschland ist laut Angaben des Statistischen Bundesamts jeder Fünfte von Armut bedroht. Doch statt die Aufmerksamkeit dorthin zu richten, machen einige Medien und Politiker nun die unter fünf Prozent Muslime in diesem Land zu einer allumfassenden Pseudoumwelt. Statt sich um die Bezahlbarkeit der Mieten zu sorgen, was so gut wie jeden Bürger betrifft, sorgen sich viele um eben jene Pseudowelt.

Auch in Deutschland hört man nun Stimmen, die anderswo Autokraten den Weg ebnen

Merkel träumt in ihrer Regierungserklärung diese Woche davon, das gespaltene Land wieder zusammenzuführen. Doch dafür fehlt diesem Kabinett die entscheidende Diversitätskompetenz. Um die Spaltungen in diesem Land wieder aufzulösen, muss man die einzelnen Teile der Bevölkerung, die man zusammenführen möchte, gut kennen. Derzeit werden sie gegeneinander ausgespielt, zugunsten der Rechten. Spaltung scheint im Jahr 2018 auch in Deutschland der neue politische Volkssport zu sein. Die eingangs beschriebene Bewunderung für Deutschland hat sich gelegt. Auch hier hört man nun Stimmen, die in anderen Ländern Autokraten den Weg zur Herrschaft geebnet haben.

Der nationale Diskurs ist bedingungslos, wenn er erst zum Mainstream geworden ist. Er ist raumgreifend. Er lässt nichts neben sich gelten. Heimat soll wieder ein politischer Begriff werden, fordert die CSU, und Seehofer erhält prompt sein Heimatministerium. Doch ausgerechnet jene Politiker, die von Heimat reden wollen, machen sich, direkt nach der lang ersehnten Regierungsbildung, daran, diese Heimat zu verhackstücken: die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Als hätte man nur darauf gewartet, dem früheren Bundespräsidenten Wulff widersprechen zu dürfen: "Der Islam gehört nicht zu Deutschland." Viele Pressevertreter, erotisiert vom rechten Lärm, halten umgehend die Mikrofone vor diese Münder, die keinen Maulkorb mehr kennen wollen.

Politiker, die dazu beitragen, die Probleme dieses Landes auf Konflikte zwischen Mehrheiten und Minderheiten zu reduzieren, übersehen die Komplexität der deutschen Gesellschaft. Nicht deren Vielfalt ist das Problem, sondern deren Zweiteilung in Demokraten und Antidemokraten. Ein ethnischer oder religiöser Hintergrund spielt dabei längst keine zentrale Rolle mehr. Die politischen Überzeugungen liegen quer zu den Ethnien und Religionen. Viele, die noch im Trauma des "Multikulti" gefangen sind, verstehen diese Verschiebung noch nicht. Sie beginnt mit jenen, die jeden Hinweis auf das deutsche Grundgesetz für einen Maulkorb halten. Sie darf man getrost zu den Antidemokraten zählen. Solche Anhänger des Autoritären verteilen sich auf alle ethnischen und religiösen Gruppierungen. Eine Politik, die sich sprachlich vor allem auf das primitive Recht des Stärkeren verlässt, höhlt das demokratische Gemeinwesen aus. Das Feindselige des Diskurses dringt in den Alltag ein. "Die da oben" legitimieren die Wut der anderen. Die Wut aller gegen alle. Eine Grunderregung zieht sich durch das Gemeinsame, wie Hochspannung. Wer aber Heimat schaffen will, muss es so tun, dass es nicht zur Heimatgefährdung gerät. Gerade in Deutschland.

Kolumne von Jagoda Marinić

Jagoda Marinić, Jahrgang 1977, ist Schriftstellerin, Kulturmanagerin und Journalistin. Auf Twitter unter @jagodamarinic. Sie studierte Politikwissenschaft, Germanistik und Anglistik an der Universität Heidelberg. In ihrem aktuellen Debattenbuch "Sheroes" plädiert sie für ein lebhaftes Gespräch unter den Geschlechtern. Alle Kolumnen von ihr finden Sie hier.

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