Kolumne:Aleppo

Emcke, Carolin

Carolin Emcke, 51, ist Autorin und Publizistin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Der Krieg in Syrien und der Zynismus angesichts des Leids dort zeigen: Es gibt keine Moral, die der Globalisierung der Welt entsprechen würde.

Von Carolin Emcke

Die ungeheure Erweiterung der Handlungsräume ließ die Frage aufkommen, ob die Moral mit dem Fortschritt der kommerziellen Gesellschaft Schritt halten könnte." So formulierte es der Publizist Henning Ritter in seinem Essay "Nahes und Fernes Unglück. Versuch über das Mitleid". Diese Zeilen galten zwar den Entwicklungen im 18. Jahrhundert, man könnte jedoch glauben, sie bezögen sich auf die ethisch-existenziellen Fragen der Gegenwart: Ob in der globalisierten Welt mit ihrer ungeheuren Erweiterung der Handlungsräume die Moral auch dem Fortschritt der digitalisierten Gesellschaft Schritt halten kann? Ob aus der Tatsache, dass Raum und Zeit sich verdichtet haben, wie das immer behauptet wird, auch irgendetwas folgt? Ob sich mit dem Wissen über die Ereignisse an anderen Orten der Welt, das uns heutzutage digital schneller erreicht als früher, auch das Mitleid erweitert hat? Und ob das Mitleid dann auch tatsächlich zum Handeln mobilisiert? Oder, so beschrieb Henning Ritter die trostlose Alternative, ob die Gesellschaft "sich spalten könnte in ein Ethos der Nähe und der Ferne".

Bei einem Blick auf die furchtbare Schlacht um Aleppo, die wir, zeitgleich, tatenlos miterleben, zeigt sich: Die Moral hat nicht Schritt gehalten. Der ungeheuren Erweiterung der Handlungsräume entspricht keine Erweiterung des Mitleids. Es gibt stattdessen wohl doch nur ein Ethos der Nähe und der Ferne. Auch wenn die Bilder von sterbenden, verhungernden, verwundeten Kindern uns erreichen, so erreichen sie uns doch anscheinend nicht genug. Auch wenn die Hilferufe der letzten verbliebenen Ärzte aus Aleppo uns nahe rücken, so bleiben sie doch zu fern. Jeden Tag dringen schreckliche Nachrichten und Bilder zu uns; die Menschen aus Syrien, die hier Zuflucht gefunden haben, erzählen von Eltern, Geschwistern, Freunden, die allein ausharren in den Wirren des Krieges, Woche für Woche, Monat für Monat - und kein Frieden nirgends.

Es gibt keine Erweiterung des Mitleids, sondern nur einen Ethos der Nähe und der Ferne

Es ist alles bekannt. Selbst die inszenierten, manipulierten Bilder von angeblichen Hilfslieferungen werden als inszenierte, manipulierte Bilder entlarvt. Es gibt genügend mutige syrische Aktivistinnen und Aktivisten, die ihr Leben riskieren, damit die Welt erfährt von Folter und Verschleppung, von misshandelten Frauen und Bombardements mit Fassbomben, womöglich versetzt mit Chlorgas. Sie dokumentieren die Verbrechen des Assad-Regimes, so präzise und so genau, wie es geht, damit sich eines fernen Tages ein internationaler Gerichtshof damit befasst - und niemand dann leugnen kann, dass geschehen ist, was geschehen ist.

Es ist bekannt, welche Verbrechen in den Gegenden begangen werden, in denen der IS herrscht. Dazu sind noch nicht einmal kritische Beobachter nötig. Das dokumentiert und veröffentlicht die Medienabteilung des IS selbst. Es ist auch bekannt, wer in diesem Stellvertreterkrieg um Aleppo kämpft: Da ist im Westteil der Stadt die syrische Armee, mit ihren verbündeten Milizionären der Hisbollah und Kämpfern aus Afghanistan und dem Irak - und vor allem der massiven Unterstützung durch das russische Militär. Und da sind die von den Vereinigten Staaten und Saudi-Arabien unterstützten Rebellen im Osten der Stadt, darunter auch die extrem gut organisierten Kämpfer von al-Nusra. Sie heißen inzwischen Fatah al-Scham und haben sich offiziell von al-Qaida distanziert - aber wie sich das auswirken wird, ist noch nicht abzusehen. Beide Seiten behaupten, die eigene Gewalt sei die legitime. Für die Zivilgesellschaft spielt das kaum eine Rolle. Die Menschen können sich nicht aussuchen, in welchem Viertel sie in wessen Einflusszone geraten oder durch welchen Frontverlauf sie beschossen oder ausgehungert werden. Die Behauptung des Assad-Regimes und Russlands, ihre Angriffe richteten sich allein gegen Terroristen, erleben sie jeden Tag als bittere Farce.

Anfang Juni hatte die syrische Armee, unterstützt durch die russische Luftwaffe einen Belagerungsring um den Osten Aleppos gezogen. Seither sind 250 000 bis 300 000 Zivilisten von der Außenwelt und humanitärer Hilfe abgeschnitten. Allein im Monat Juli wurden zehn Angriffe auf Gesundheits-Einrichtungen und Kliniken registriert. Clarissa Ward, internationale Reporterin von CNN, sagte dem russischen Gesandten bei den UN, aus ihrer Erfahrung vor Ort müsse sie feststellen, dass "das Bombardieren von Krankenhäusern, Gerichten, Bäckereien und Obstmärkten den Terrorismus nicht stoppt". Vergangene Woche ist die internationale Diplomatie mit dem Versuch gescheitert, eine Waffenruhe herbeizuführen; es wurden keine Hilfskorridore durchgesetzt, durch die wenigstens Lebensmittel und Wasser in die Hölle hätte geliefert werden können - von einer Flugverbotszone, die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschließen müsste, einmal ganz abgesehen. Nein, es war die Allianz der Rebellen, die in einer Gegenoffensive die Belagerung durchbrochen hat, und die einen schmalen, fragilen Korridor erkämpfte, über den die Zivilbevölkerung im Osten Aleppos nun endlich wieder versorgt werden kann. Das Vertrauen in internationale Hilfe wurde so nicht gerade gestärkt.

Inzwischen klingen nicht einmal mehr die Diplomaten diplomatisch, wenn es um die Aussichten für Syrien geht. "Wir sind im Rückwärtsgang", so lakonisch wie hoffnungslos beschrieb diese Woche die amerikanische Botschafterin bei den UN, Samantha Powers, das Bemühen um Friedensgespräche. Als Bedingung für die Wiederaufnahme der Verhandlungen waren eine Waffenpause und ein Zugang für Hilfslieferungen festgelegt worden - momentan scheint die umgekehrte Reihenfolge realistischer zu sein: Verhandlungen, damit endlich eine Waffenpause und humanitäre Hilfe durchgesetzt werden könnten. Von einem Nachkriegs-Syrien oder dem Wiederaufbau in der fernen Zukunft zu fantasieren, ist fast zynisch angesichts des Sterbens in der nahen Gegenwart.

Mit diesem Beitrag verabschiedet sich Carolin Emcke in eine längere Pause. Die nächste Kolumne von ihr wird im Herbst erscheinen.

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