Koalitionsvertrag:Manifest des Schwindels

Koalitionsvertrag

Die Parteispitzen der großen Koalition präsentieren den Koalitionsvertrag im Bundestag

(Foto: dpa)

Selten gab es größeren Wahlbetrug: Entgegen allen Versprechen belastet der Koalitionsvertrag vor allem Familien und einfache Bürger, Spitzenverdiener bleiben verschont. Dieses verquere Verständnis von Gerechtigkeit ist skandalös.

Ein Kommentar von Claus Hulverscheidt

Wer dieser Tage führende Christdemokraten fragt, wo genau im Koalitionsvertrag eigentlich die Handschrift der CDU oder gar der Bundeskanzlerin zu finden ist, erhält fast immer die gleiche, ein wenig verdruckste Antwort: Aufgabe der CDU, heißt es dann, sei es diesmal weniger gewesen, bedeutende Reformideen einzubringen, als vielmehr die künftigen Bündnispartner von allzu großem Unsinn abzuhalten.

Das gelte sowohl für die SPD mit ihren teils aberwitzigen Ausgabenwünschen, als auch für die Schwesterpartei CSU mit ihrem Maut-Tick und den vielen anderen Spleens. Im Übrigen sei es ja auch kein Wert an sich, wenn ein Koalitionsvertrag vor Neuerungen nur so strotze. Oft habe es mehr Sinn, einen als richtig erkannten Kurs - etwa in der Europapolitik - einfach fortzusetzen.

Man reibt sich schon die Augen, mit wie wenig sich die einstige Reformpolitikerin Angela Merkel heutzutage zufriedengibt. Dennoch könnte einen die als Kontinuität getarnte Ambitionslosigkeit der CDU-Vorsitzenden kaltlassen - hätte sie nicht Folgen: Der Verzicht auf jede Steuer- und Abgabenreform führt nämlich dazu, dass in den kommenden vier Jahren viele Millionen Bürger viele Milliarden Euro mehr an Steuern und Sozialbeiträgen werden zahlen müssen, als es nötig und angemessen wäre.

Ja, schlimmer noch, am stärksten betroffen ist ausgerechnet diejenige Bevölkerungsgruppe, die in den Sonntagsreden der Politiker stets am meisten umschmeichelt wird - Familien mit geringen und durchschnittlichen Einkommen. Mehr Wahlbetrug war selten.

Zur Erinnerung: Alle drei mutmaßlichen Bündnispartner hatten in ihren Programmen, mit dem sie um die Wähler warben, Änderungen im Steuerrecht angekündigt. Die Union wollte den Grundfreibetrag für Kinder sowie das Kindergeld deutlich erhöhen und die sogenannte kalte Progression - eine Art heimliche Steuererhöhung bei gleichbleibender Kaufkraft des Bürgers - dämpfen. Die SPD kündigte Steuererhöhungen für Spitzenverdiener an, um Mehreinnahmen für Sozialprogramme und Investitionen zu generieren.

Verqueres Verständnis von Gerechtigkeit

Nichts von all dem findet sich im Koalitionsvertrag, im Gegenteil: Der Beitrag zur Pflegeversicherung steigt, jener zur Rentenversicherung wird - obwohl gesetzlich eigentlich vorgeschrieben - nicht gesenkt. Gerade Veränderungen bei den Sozialabgaben belasten jedoch keine Gruppe so sehr wie die der Gering- und Durchschnittsverdiener, während sie Bezieher hoher Einkommen kaltlassen können. Addiert man zu den Belastungen noch die entgangenen Entlastungen hinzu, die sich durch den Bruch der Unions -Steuerversprechen ergeben, kommt man schon bei Geringverdienern auf "Kosten" von vielen Hundert Euro im Jahr. Bei Beziehern durchschnittlicher Gehälter sind es 1000 Euro und mehr.

Zugespitzt kann man sagen: Entgegen aller Versprechen bürden CDU und CSU die Kosten des Koalitionsvertrags den einfachen Bürgern auf - allein zu dem Zweck, um im Rennen um die bedeutendste Steuererhöhungsverhinderungspartei des Landes Spitzenverdiener vor Mehrbelastungen bewahren zu können. Das ist ein wahrhaft verqueres Verständnis von Gerechtigkeit und einer Christenpartei unwürdig. Genauso skandalös ist, dass die SPD für eine solche Politik die Hand reicht.

So wichtig für die Sozialdemokraten der Mindestlohn und für die Union die Mütterrente sein mag: Beide "Erfolge" zeigen, dass die künftigen Koalitionspartner über die Beschäftigung mit Einzelgruppen die große Mitte der Gesellschaft aus den Augen verloren haben. Selbstverständlich enthält der Koalitionsvertrag auch Pluspunkte - jeder kann sich die für ihn wichtigen heraussuchen. Aus dem Blickwinkel der Lastenverteilung aber ist er ein Manifest des Schwindels und der Ungerechtigkeit.

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