Koalitionsverhandlungen:Union und SPD betreiben die Verzwergung der großen Koalition

Fortsetzung der Koalitionsverhandlungen

Aktivisten der Umweltorganisation Nabu protestieren am Rande der Koalitionsverhandlungen zwischen der Union und der SPD vor dem Willy-Brandt-Haus mit Porträt-Fotos der Parteivorsitzenden Martin Schulz (SPD), Angela Merkel (CDU) und Horst Seehofer (CSU).

(Foto: picture alliance / Kay Nietfeld/)

Zusammenhalt, Integration, Digitalisierung, Europa - Merkel, Seehofer und Schulz müssen endlich die großen Themen und Sorgen der Menschen ins Zentrum ihrer Politik stellen. Oder wenn nicht, den Weg für andere freimachen.

Kommentar von Stefan Braun, Berlin

Nicht, dass sie es nicht wüssten. Nicht, dass sie es nicht erwähnt hätten. CDU, CSU und SPD - alle drei Parteien spüren längst, dass in diesem Land etwas gar nicht mehr rund läuft. Alle wissen, dass die Spannungen wachsen und der Zusammenhalt schwindet. Wirtschaftlich, sozial, politisch - an vielen Ecken des Landes steht plötzlich viel auf dem Spiel. Und doch erwecken Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz auch nach Wochen der Verhandlungen nicht den Eindruck, als ob sie auf die großen Fragen umfassende Antworten hätten.

Als die drei vor Kurzem die Ergebnisse ihrer Sondierungen vorstellten, fielen zwar Begriffe wie Spannung und Zusammenhalt. Aber inzwischen werden sie längst überlagert von gefühlt tausend anderen Fragen. Als ob die sachgrundlose Befristung oder auch der Familiennachzug für Flüchtlinge das Wichtigste wären. Beide Themen sind relevant; über beide sollte gesprochen werden. Aber dass sie zentral sind für die Zukunft dieses Landes, ist Unsinn.

Entscheidend wird sein, ob es Union und SPD bis Sonntag gelingt, sich eine gemeinsame, zentrale, überzeugende Überschrift zu geben. Nicht aus PR-Zwecken, sondern um die Bildung einer neuen großen Koalition vor den Wählern zu begründen. Mit Spiegelstrichen und Details beim Arbeitsrecht oder in der Gesundheitsversorgung lässt sich die Fortsetzung nicht rechtfertigen. Dafür braucht es das große Versprechen, dieses Land endlich angemessen zu modernisieren. Es also mit guten Schulen und einer umfassenden Bildung im Digitalen auszustatten.

Nach gut einer Woche Sondierungsgesprächen, nach einem stürmischen SPD-Parteitag und einer Woche mühsamster Koalitionsverhandlungen ist davon kaum etwas zu erkennen. Und das ist nicht mehr nur ein Lapsus. Es führt zu der Frage, ob die drei noch die Richtigen sind, um das Land zu regieren. Können sie einer neuen Koalition noch eine echte Idee geben? Spüren sie, wie notwendig eine Überschrift wäre, um zu überzeugen? Haben sie verstanden, dass in Zeiten von AfD und Trump Verantwortung mehr ist als ein paar Kompromisse auszuhandeln?

Union und SPD agieren zögerlich, zankend und zermürbend

Es reicht nicht mehr, nach einer letzten Nachtsitzung Hurra zu rufen. Es genügt nicht, dass sich Union und SPD bei allen Streitthemen irgendwo in der Mitte treffen. Der kleinste gemeinsame Nenner bringt nichts, solange eine überwölbende Idee ausbleibt; der kleinste gemeinsame Nenner führt eine große Koalition in die Verzwergung.

Bis jetzt ist es Union und SPD nicht gelungen, den Trend umzukehren. Nicht in der Sache und nicht rhetorisch. Stattdessen wächst von Tag zu Tag der Eindruck, alle würden einfach immer so weitermachen wie bisher. Zögerlich, zankend, zermürbend und vor allem uninspirierend. Wer sich ansieht, wie laut und entschlossen alle drei Parteien nach der Bundestagswahl ankündigten, man habe verstanden und werde nicht mehr so weitermachen wie bisher, kann dieser Tage nur staunen, wie schnell sich dieses Gelöbnis auflöst.

Dass es so weit kommen konnte, ist ärgerlich. Dass die großen Themen, die eine Koalition angehen müsste, quasi vor ihr auf der Straße liegen, macht die Sache noch schlimmer. Die Integration der Flüchtlinge - sie ist mitnichten abgeschlossen. Sie ist noch nicht einmal gut und angemessen begonnen worden. Also hängt für das Land sehr viel daran, ob die nächste Regierung endlich adäquat auf diese Großaufgabe antwortet.

Merkel, Seehofer und Schulz müssten hier Schwerpunkte setzen: mit sehr viel Geld für Lehrer und Schulen, mit deutlich mehr Personal für Fortbildung und Betreuung, mit mehr Polizisten und mehr Präsenz in gefährdeten Regionen, um klarzumachen, dass man die Sorge vor Kriminalität und die Sorge vor rechter Gewalt ernst nimmt.

Ein paar Milliarden Euro mehr reichen nicht

Außerdem müsste sie gleichzeitig eine zweite Großbaustelle anpacken. Dabei geht es nicht um Flughäfen oder Bahnhöfe; es geht darum, die Regionen und Stadtteile in den Blick zu nehmen, in denen sich mehr und mehr Menschen sprichwörtlich "abgehängt fühlen". Es gibt Landstriche, in denen die öffentliche Infrastruktur wegbricht; es gibt Stadtteile, in denen Zigtausende durch unbezahlbare Mieten verdrängt und vertrieben werden.

Das sind im Einzelnen keine riesigen Probleme. In der Summe aber haben sie eine verheerende Wirkung. In dem Maße, wie das Lebensumfeld wegbricht, verabschieden sich die Leute auch von dem Glauben, dass sich jemand um sie kümmert. Ob das immer stimmt und ob das immer möglich wäre, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass die AfD hier mit ihren demokratiefeindlichen Thesen ansetzt. Das ist in der Sächsischen Schweiz nicht anders als in bestimmten Stadtteilen in Nordrhein-Westfalen.

Hinzu kommt ein drittes Thema, das eng mit dem zweiten verwoben ist. Die Digitalisierung. Sie bringt schöne Errungenschaften mit sich. Aber sie hat auch Schattenseiten. Sie wird Gewinner, aber auch Verlierer produzieren. Die negativen Folgen der Digitalisierung haben sich eingelagert in den Köpfen vieler Menschen. Und das verlangt längst nach einer anderen, einer viel größeren Antwort.

Warum nicht die Bundesagentur für Arbeit neu denken?

Dafür reicht es nicht, ein paar Milliarden Euro mehr einzusetzen. Die Sorgen vor den Veränderungen durch Digitalisierung, Automatisierung, künstliche Intelligenz können nur abgebaut werden, wenn die nächste Regierung erkennbar einen großen Plan hat. Wenn sie nicht nur Geld gibt für den Glasfaserkabelausbau, sondern auch für ein Fortbildungsprogramm, das alle sorgenvollen Bürger in den Blick nimmt. Auf die Veränderungen, die auf das Land zukommen und schon jetzt die Spaltung fördern, müssen diejenigen, die eine Regierung bilden wollen, eine Antwort geben.

Warum nicht die Bundesagentur für Arbeit neu denken? Warum deren großes Netz nicht nutzen, um Menschen schon jetzt fortzubilden, bevor sie womöglich arbeitslos werden? Warum nicht jede Schule endlich angemessen mit Technik ausstatten? Es liegt auf der Hand, aber es wird nicht angenommen.

Und dann kommt Europa: Was heißt es eigentlich, den liberalen, weltoffenen, europäischen Weg gegen Trump, Putin, Erdoğan zu verteidigen? Was will die Vielleicht-Koalition konkret tun, um die Solidarität mit den Süd- und den Ostmitteleuropäern in der EU wieder zu stärken? Wie kann Deutschland, wie kann Berlin dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron bei seinem Ziel helfen, die EU sozialer zu machen? Bislang gibt es dazu von Union und SPD nur Willenserklärungen. Das reicht nicht, um in diesen Zeiten ein Regieren noch zu begründen.

Es gibt keine großen Aufgaben? Es gibt keine bessere Begründung für eine Neuauflage der großen Koalition? Doch, die gibt es. Aber Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz müssen sie in den Mittelpunkt ihrer angestrebten Koalition stellen. Sonst sollten sie den Weg frei machen - für neue Vorsitzende oder für Neuwahlen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: