Koalition:Zwei Stimmen aus Berlin

Zum Brexit zeigt die Koalition keine einheitliche Haltung. Das Kanzleramt warnt vor Überreaktionen. Die SPD hingegen erklärt, was alles anders werden muss in Europa. Sigmar Gabriel nennt das "Entgiftung".

Von Stefan Braun, Berlin

Sollte irgendjemand noch Zweifel gehabt haben, dass Angela Merkel und Sigmar Gabriel aus sehr unterschiedlichem Holz geschnitzt sind, dann dürfte das jetzt vorbei sein. Seit dem britischen Referendum zur EU wirken Kanzlerin und Vizekanzler, als wollten sie beweisen, dass sie auf Krisen gegenteilig reagieren. Merkel will beruhigen, warnt vor Überreaktionen, möchte weder gegenüber London noch gegenüber anderen EU-Staaten Gräben aufreißen. Gabriel warnt zwar vor einem Scherbengericht, sagt aber zugleich, was sich alles ändern soll in einer EU, die "demokratischer, sozialer, solidarischer, unbürokratischer" werden müsse. Seine Botschaft: "Wir müssen Europa entgiften."

Die Kanzlerin wirkt verglichen damit zurückhaltend, leise, zögerlich. Jedenfalls dann, wenn sie öffentlich auftritt. Nach dem Spitzentreffen von CDU und CSU in Potsdam gab sie zwar zu, dass in der EU zentrale Probleme zuletzt nicht mehr gelöst worden seien. Das könnte man als Merkelsche Form eines Reformappells lesen. Danach aber warnte sie vor allem davor, schon wenige Stunden nach dem Votum alle erdenklichen Ideen in die Welt hinauszuposaunen und Großbritannien zur Rettung der übrigen 27 EU-Mitglieder besonders laut und schnell zum Austritt aufzurufen. Während Außenminister Frank-Walter Steinmeier und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz genau das taten, sagte Merkel, sie werde sich für einen schnellen Austritt der Briten sicher nicht "verkämpfen". Es gebe keinen Grund, gegenüber London "besonders garstig" aufzutreten.

Hinter diesen Worten der Kanzlerin, das wird klar wenn man mit Leuten im Kanzleramt spricht, steckt vor allem die Sorge, dass in Deutschland wie in anderen EU-Staaten jetzt sehr schnell die Polarisierer das Bild und die Debatte prägen könnten. Nicht wenige würden dem Land lieber heute als morgen eine "überbraten", wie es ein enger Mitarbeiter Merkels ausdrückt. Falsch und gefährlich wäre das.

Dabei wird eingeräumt, dass es verständlich sei, wenn jetzt manche nach Jahrzehnten mühsamer Verhandlungen mit den Regierungen in London Frust und Ärger empfänden. Außerdem wird auch im Kanzleramt darauf verwiesen, dass sich eine Mehrheit der Briten mit dem Referendum gegen einen der wichtigsten deutschen Grundsätze überhaupt gestellt habe: den Grundsatz, dass am Ende vieles auf dieser Welt nur mit einem vereinten Europa gelöst werden könne.

Trotzdem heißt es aus Merkels Umgebung: "Auch wenn die Volksmeinung danach rufen mag, den Briten eine aufs Haupt zugeben - das ist nicht unser Stil, das ist nicht unser Inhalt."

Aus Rachsucht oder Häme Öl in den Konflikt zu gießen, könnte letztlich allen schaden

Zwei Kernüberlegungen spielen dabei vor Merkels Treffen mit Frankreichs Präsident François Hollande und Italiens Premierminister Matteo Renzi am Montag in Berlin eine Rolle. Zum einen teilt man im Kanzleramt zwar das Ziel, dass die Verhandlungen zügig beginnen sollten. Aber man sieht auch, dass die EU in Brüssel und die 27 Mitglieder gegenüber London keinerlei Druckmittel besitzen. Merkels Konsequenz: Sie will nicht laut, gar aggressiv von London etwas verlangen, was sie im Zweifel an keiner Stelle erzwingen könnte. Sie befürchtet, dass die besonders lauten Rufer am Ende besonders schwach aussehen könnten.

Darüber hinaus will das Kanzleramt, das wird offenkundig als noch wichtiger erachtet, angesichts der schwierigen Lage, in der sich Großbritannien nach dem Referendum befindet, keinen zusätzlichen Konflikt provozieren, der am Ende auch der EU und den Deutschen schwer schaden könnte. "Wir dürfen nicht dem Gefühl der Rachsucht nachgeben, wir würden uns ins eigene Fleisch schneiden", lautet die Warnung. Deutlich wird, dass im Kanzleramt eine andere Vorsicht herrscht als in der SPD-Spitze. Es geht um zu viel, heißt die Losung. Großbritannien sei die zweitgrößte Wirtschaftsnation in Europa und bleibe ein enorm wichtiger Partner für Deutschland. Das bedeute nicht, dass sich die EU am Ende Sonderregelungen aufzwingen lassen dürfe. Aber man müsse den Briten Zeit lassen angesichts der riesigen Gräben, die das Referendum gerissen habe.

Ob Frankreichs Präsident Hollande das auch so sieht, wird sich am Montag bei dessen Besuch in Berlin zeigen. Sein Außenminister Jean-Marc Ayrault erweckt jedenfalls einen anderen Eindruck. Wie Steinmeier forderte er am Samstag einen sehr sehr schnellen Austritt.

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