Koalition:Für Merkel tickt die Uhr

"Das werden wir uns nicht gefallen lassen": Innenminister Seehofer stellt im Asylstreit mit der Kanzlerin klar, dass ihn die Drohung mit ihrer Richtlinienkompetenz nicht schreckt. Platzt die große Koalition?

Von Nico Fried

Es gibt für Angela Merkel eine eiserne Regel: auf Auslandsreisen keine Kommentare zur Innenpolitik. Insofern ist es schon bemerkenswert, dass sich die Kanzlerin während der Pressekonferenz mit dem libanesischen Premierminister Saad Hariri in Beirut überhaupt zu zwei Sätzen über die Zukunft ihrer erschütterten Koalition entschließt. Sie arbeite daran, dass die Regierung "die Aufgaben, die sie sich im Koalitionsvertrag gestellt hat, auch erfüllen kann", sagt Merkel. "Da haben wir viel zu tun." Letzteres ist sogar ein durchaus doppelsinniger Satz, denn er stimmt sowohl, was das Pensum angeht, vor allem aber, was den Zusammenhalt betrifft.

Zum vierten Mal ist am Freitag eine Regierung Merkel 100 Tage im Amt, noch nie stand die Macht der Kanzlerin am Ende dieser inoffiziellen Schonfrist so in Frage wie diesmal. Das liegt vor allem daran, dass sich CDU und CSU untereinander nicht schonen. Mit der Diskussion um Zurückweisungen an der Grenze, Merkels Richtlinienkompetenz und die Befugnisse des Innenministers hat sich an einem eher marginalen Detail der ohnehin nur scheinbar befriedete Streit um die Flüchtlingspolitik wieder entzündet. Und mit ihm womöglich der letzte Krach im 14 Jahre währenden Dauerkonflikt zwischen Horst Seehofer und Angela Merkel.

Die Reise der Kanzlerin nach Jordanien und Libanon war lange geplant, aber inmitten der innenpolitischen Krise wirkt sie fast wie ein demonstrativer Akt. Während zuhause die Debatte um den Umgang mit einigen Tausend bereits registrierten Asylbewerbern an der Grenze tobt und die Flüchtlingszahlen kontinuierlich sinken, besucht Merkel zwei Staaten, in denen Flüchtlinge ganze Gesellschaften ins Wanken bringen. Merkel und Seehofer arbeiten dieser Tage auch geografisch gesehen an den entgegengesetzten Enden des Migrationsproblems.

German Chancellor Angela Merkel visits Jordan, Amman - 21 Jun 2018

Was ist die Autorität der Kanzlerin in ihrer Regierung noch wert? Angela Merkel bei ihrem Besuch am Donnerstag in Jordanien.

(Foto: Christian Bruna/EPA-EFE/REX/Shutterstock)

Der Libanon hat fünf Millionen Einwohner, aber mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Hinzu kommen eine halbe Million palästinensische Flüchtlinge, die zum Teil schon seit Jahrzehnten hier leben. Am Freitagmorgen besichtigt Merkel eine Schule in Beirut, die ein Zwei-Schichten-System eingeführt hat. Vormittags werden die libanesischen Kinder unterrichtet, am Nachmittag Kinder aus überwiegend syrischen Flüchtlingsfamilien. 349 solche Schulen gibt es mittlerweile im Libanon, ihre Zahl hat sich seit 2013 vervierfacht, das öffentliche Schulsystem unterrichtet mehr Flüchtlingskinder als Kinder aus einheimischen Familien.

Für das libanesische Programm des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen, Unicef, ist Deutschland mit 80 Millionen Dollar im abgelaufenen Schuljahr der mit Abstand größte Geberstaat gewesen. Trotzdem klafft im Etat des Programms noch ein Loch von acht Millionen. Und die Finanzierung des nächsten Schuljahres ist noch völlig offen. "Wir zählen auf Länder wie Deutschland", sagt die Vize-Direktorin des Programms, Violet Speek-Warnery. Und Ministerpräsident Hariri bekräftigt das auch gegenüber Merkel.

Zuhause hämmert Horst Seehofer derweil Nagel um Nagel in den Bühnenboden, um die Drohkulisse für Merkel aufzubauen. Empört zeigte sich der CSU-Chef über die Ermahnung der Kanzlerin, ihre Richtlinienkompetenz zu achten. "Man hat im Kanzleramt aus einer Mücke einen Elefanten gemacht. Und es ist höchst ungewöhnlich gegenüber dem Vorsitzenden des Koalitionspartners CSU, mit der Richtlinienkompetenz zu drohen", sagte Seehofer der Süddeutschen Zeitung. "Das werden wir uns auch nicht gefallen lassen."

Aktuelles Lexikon: Mätzchen

Flachs, Flausen, Firlefanz: Es gibt viele schöne Wendungen, die Menschen mit einem Hang zu seltsamen Gedanken oder Verhaltensweisen beschreiben. Vielleicht das schönste Wort in diesem Zusammenhang sind die "Mätzchen", die nach Auffassung der SPD gerade CSU-Chef Horst Seehofer macht - was sich beim ersten Nachdenken mit Unsinn übersetzen ließe. Tatsächlich haben die Mätzchen aber einen größeren Bedeutungshorizont. Der Ausdruck leitet sich von den Vornamen Matthäus oder Matthias ab, deren Koseform "Matz" eine interessante sprachgeschichtliche Entwicklung durchlief. Denn der Matz wurde zum Gattungsnamen für irgendwie absonderliche Menschen - hauptsächlich alberne und törichte wie etwa die in der Literatur bekannte Figur des "Hans Matz ut Dräsen/Kann schreiben und nich lesen". Noch heute gebräuchlich sind Varianten wie der "Piepmatz" oder der "Hosenmatz", die offenkundig auf eine Verniedlichung zielen und denen ein albernes Element beiwohnt. Von hier aus ist der Sprung nicht mehr weit zur eigentlichen Bedeutung von "Mätzchen machen". Es beschreibt auch ein Verhalten, das darauf zielt, mit vordergründigen, aber wirkungssicheren Mitteln den Beifall des Publikums zu erringen - ein Verhalten, wie es nach SPD-Meinung gerade Seehofer zeigt. Marc Hoch

Und auch in der Sache legt der Innenminister nach. "Meine Haltung ist klar: Wenn der EU-Gipfel keine wirkungsgleichen Lösungen bringt, werden Migranten, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, zurückgewiesen", sagte er. Bei einem symbolischen Akt wolle er es nicht belassen. "Es geht darum, dass man effektiv zurückweisen kann. Dazu gehören für mich auch temporäre, anlassbezogene Kontrollen auch an anderen Grenzübergängen als den drei stationär kontrollierten in Bayern", so Seehofer.

Derweil tickt die Uhr. Am Sonntag trifft Merkel Kollegen anderer EU-Staaten in Brüssel, um den Grenzstreit beizulegen. Schon die Vorbereitung läuft nicht unfallfrei. In der Wüste Jordaniens, irgendwo zwischen Amman und der irakischen Grenze, telefonierte Merkel am Donnerstag mit dem italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte. Er soll wegen vorab bekannt gewordener Papiere mit der Absage des Treffens in Brüssel gedroht haben. In Beirut muss Merkel klarstellen, dass es am Sonntag noch nicht um Entscheidungen gehe und dass - für Italien wichtig - nicht nur über Flüchtlinge an den Binnengrenzen der EU gesprochen werden soll, sondern auch über sogenannte Primärmigration, vor allem in die Mittelmeerstaaten. Damit geht es jetzt um alles - in der Flüchtlingspolitik, wie auch für Merkel und Seehofer.

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