Klaus Kinkel im Interview (2007):"Putin versucht, dem gedemütigten Russland seine Ehre zurückzugeben"

Klaus Kinkels Platz in der 'Ahnengalerie'

Bonn 1998: Der damals scheidende Bundesaußenminister Klaus Kinkel (FDP) zeigt auf 'seinen Platz' in der 'Ahnengalerie' an der Wand im Treppenaufgang des Ministerflügels im Auswärtigen Amtes. Dort wird nach der Amtsübergabe an Joschka Fischer auch Kinkels Portät neben denen den ehemaligen Außenminister Walter Scheel (l) und Hans-Dietrich Genscher (ebenfalls beide FDP) hängen.

(Foto: Tim Brakemeier/dpa)

Der frühere Außenminister über einen unverschämten Ex-Kanzler, die Menschenrechtspolitik von Angela Merkel und den Umgang mit Autokraten und Despoten.

Interview von Oliver Das Gupta und Thorsten Denkler, Bonn

SZ.de: Herr Kinkel, war es richtig von Angela Merkel, den Dalai Lama im Kanzleramt zu empfangen?

Klaus Kinkel: Ja, war es. Viele andere haben das ebenso getan, auch der amerikanische Präsident. Ich übrigens auch als Außenminister. Frau Merkel hat Recht: Sie soll sich von niemandem vorschreiben lassen, wen sie trifft - auch nicht von der chinesischen Regierung.

SZ.de: Wieso reagiert Peking so gereizt?

Kinkel: Die Chinesen haben der Kanzlerin offenbar übel genommen, dass sie sie bei ihrem China-Besuch im Sommer nicht über das Treffen mit dem Dalai Lama informiert hat. Dass es so war, ist zwar nicht offiziell - aber bislang hat auch niemand widersprochen. Ich könnte mir vorstellen, dass Frau Merkel es schlichtweg vergessen hat.

SZ.de: Dank Angela Merkel macht die Union die Menschenrechtfrage zum Kernbestandteil ihrer Außenpolitik. Ein richtiger Weg?

Kinkel: Dass ist Merkels besondere Note und Einstellung. Ich achte das. Natürlich soll Außenpolitik werteorientiert sein. Auf der anderen Seite kann Außen- und Sicherheitspolitik nicht losgelöst von anderen auch wirtschalftlichen Interessen betrieben werden. Es kommt auf den Einzelfall an. Sicher ist es notwendig - und auch von einem Land wie China akzeptiert - wenn man Menschenrechtsprobleme anspricht. Das muss aber in der richtigen Form geschehen. Auf den Ton kommt es an.

SZ.de: Dann ist der Weg der stillen Diplomatie doch besser?

Kinkel: Stille Diplomatie ist in manchen Fällen angebracht und erfolgreicher. Aber ich vertrete die Auffassung, dass die Menschenrechte offen angesprochen werden müssen. Es darf aber eben nicht dazu führen, dass sich ein Partner gedemütigt fühlt.

SZ.de: Nehmen Sie Merkel ab, dass ihr die Menschenrechte besonders am Herzen liegen?

Kinkel: Ja. Sie lebte in der DDR. Ich saß sechseinhalb Jahre mit ihr am Kabinettstisch und weiß: Sie hat eine eigene Prägung.

SZ.de: Kann sie es deshalb besser als andere?

Kinkel: Merkel hat in vielerlei Beziehung Erfolg damit gehabt. Sie ist nach Amerika gereist und hat auf Versöhnung gesetzt, aber Guantanamo und andere Dinge glasklar angesprochen. Bush hat das so akzeptiert. Er hatte schwer dran zu schlucken. Merkel ist auch nach Russland gefahren und hat dort die zu kritisierenden Dinge angesprochen, sie hat aber nicht das deutsch-russische Verhältnis in irgendeiner Weise gefährdet. Schröder hingegen hat etwas getan, was man nicht tun darf.

SZ.de: Sie spielen auf die Kritik des Altkanzlers an Merkel bei seinem eigenen China-Besuch an?

Kinkel: Draußen stehen und die Bundesregierung kritisieren. Das gehört sich nicht.

SZ.de: Wie ist es Ihnen in Ihrer Zeit als Außenminister mit China ergangen?

Kinkel: Wenn man dort Menschenrechtsverletzungen angesprochen hat, hieß es: "Ihr habt es leicht. Wir müssen uns um 1,2 Milliarden Menschen kümmern. Wir müssen in erster Linie sehen, dass wir die Grundbedürfnisse der Bevölkerung sichern. Wir wissen sehr genau um die unveräußerlichen Grundrechte, dass wir die Grundrechte - Du sollst nicht töten, Du sollst nicht foltern. Aber euer Grundrechtsverständnis und eure menschenrechtlichen Vorstellungen lassen sich in einem so großen Land mit so gigantischen Problemen nicht so umsetzen, wie ihr euch das wünscht und vorstellt." Natürlich gibt es nichts, was Menschenrechtsverletzungen rechtfertigt oder entschuldigt. Aber wenn man mit solchen Ländern redet und versucht, die Dinge zu ändern, dann benötigt man auch Einfühlungsvermögen.

SZ.de: Fehlte Frau Merkel das nötige Maß an Einfühlungsvermögen?

Kinkel: Ich war bei den Gesprächen nicht dabei. Aber wenn sie in Peking den anstehenden Besuch des Dalai Lama wirklich nicht erwähnt hat, dann hat das wohl auf der chinesischen Seite in gewisser Weise zum Gesichtsverlust geführt. Darauf achtet man in Asien besonders.

SZ.de: Man könnte auch sagen, Frau Merkel hat die Chinesen gehörig vor den Kopf gestoßen.

Kinkel: Erfreut waren sie offensichtlich nicht.

SZ.de: Was kann Berlin tun, um die Wogen zu glätten?

Kinkel: Um es mit den Worten eines bekannten chinesischen Politikers auszudrücken, die er mir nach einem wegen meines Dalai-Lama-Empfangs verschobenen Chinabesuchs sagte: "Es waren Wolken am Himmel, es hat geregnet, aber die Wolken werden wieder verschwinden. Die Sonne wird wieder scheinen."

SZ.de: In diesem Fall scheinen es sehr große Gewitterwolken zu sein, die da am Himmel hängen.

Kinkel: Sie haben schon Recht, es scheint länger zu dauern und tiefer zu sitzen, als das bisher in vergleichbaren Fällen war. Trotzdem: Ruhig Blut, das wird sich wieder einrenken. Beide Länder wissen, was sie aneienander haben.

SZ.de: Früher galt in der deutschen Außenpolitik: Kontinuität wahren. Das hat sich gewandelt mit Rot-Grün, es gab eine neue, expansive Außenpolitik.

Kinkel: Einspruch! Auch Rot-Grün hat die Kontinuität im Wesentlichen gewahrt.

SZ.de: Stimmen Sie nicht zu, dass es mit dem Kosovokrieg einen Schwenk in der Außenpolitik gab?

Kinkel: Das ist Teil einer Entwicklung. Nach 1945 haben sich die Bundesregierungen langsam in die heutige Rolle hineingefunden. Je länger der von Deutschland verschuldete Krieg zurücklag, desto freier konnten wir wieder außenpolitisch agieren. Zwei große Linien gibt es seitdem: die europäische Integration und die transatlantische Ausrichtung. Und das in Kontinuität.

SZ.de: Im Verhältnis zu Washington gab es in den letzten Jahren eher einen Zickzackkurs als eine Linie.

Kinkel: Das war der Ausrutscher Schröder. Der Ex-Kanzler hat innenpolitischen Wahlkampf gemacht, der sich im Verhältnis zu den USA verheerend auswirkte. Aber das hat sich ja durch die Kanzlerin im Wesentlichen wieder eingerenkt. Auch Joschka Fischer hat auf Kontinuität gesetzt.

SZ.de: An Fischers Außenpolitik können Sie also nicht Neues erkennen?

Kinkel: Nein, nicht was Kontinuität anbelangt. Nennen Sie mir doch ein Beispiel.

SZ.de: Beispielsweise seine Nahost-Initiativen, seine Berliner Rede zur Finalität Europas.

Kinkel: Beides hat sich anders entwickelt, als er sich das vorgestellt hat. Wir Europäer und vor allem wir Deutschen haben im Nahen Osten keine wirkliche Chance, etwas zu bewegen. Die hat wohl nur die USA - und vor Fischer gab es schon viele Nahost-Initiativen. Und was Europa anbetrifft: Da hat Fischers Idee sich - leider -auch nicht durchgesetzt. Schröders Standpunkt war es: Wir müssen selbstbewusst auftreten - und hat sich ausgerechnet mit denen überworfen, mit denen wir uns am Besten verstehen sollten: den Amerikanern. Damit wir uns nicht missverstehen: Es gab und gibt Dinge, in der US-Politik, die ich massiv kritisiere. Immer kommt es - wie gesagt - darauf an, wie man es tut.

SZ.de: War die deutsche Außenpolitik unter Rot-Grün zu laut?

Kinkel: Manchmal ja. Aber das war nicht Fischers Schuld.

SZ.de: Wie bewerten Sie die Außenpolitik der Großen Koalition?

Kinkel: Frau Merkel ist stark und gut in der Außenpolitik unterwegs. Auch Außenminister Steinmeier macht das gut. Er trifft den richtigen Ton. Merkel hatte es anfangs leicht, den Anti-Schröder zu geben: in Russland, in den USA. Das war relativ einfach, aber jetzt kommen die Mühen der Ebene und die schönen Tage von Aranjuez sind vorüber. Jetzt wird es schwieriger, schließlich bestimmt die Innenpolitik auch immer die Außenpolitik mit.

SZ.de: Das gilt wohl auch für Afghanistan. Im vergangenen Jahr sollte die Bundeswehr die Partner im umkämpften Süden des Landes unterstützen. Merkel schlug die Bitte aus. Die Partner reagierten sauer. Verständlich?

Kinkel: Der Vorwurf der Bündnispartner ist: Ihr bleibt dort, wo es ruhig ist und lasst uns im Stich. Aber das stimmt so nicht. Die Bundeswehr ist für die Aufgaben, die ihr zugemutet und von ihr erwartet werden, einfach zu schlecht ausgerüstet. Unsere Aufgaben als bevölkerungsreichstes Land Europas und Wirtschaftsnation sind massiv gewachsen. Das Leistungspotential der Bundeswehr ist aber ausgereizt. Wir haben uns dann nun mal für das ruhigere Nordafghanistan entschieden. Was wir dort leisten wird gerade von den Afghanen hoch anerkannt. Das Ausrüstungsmanko ist übrigens nicht nur ein Versäumnis der jetzigen oder der rot-grünen Regierung. Das haben auch wir zu verantworten, die vor 1998 die Regierung stellten.

SZ.de: Joschka Fischer sagt, die Bundeswehr habe ihre Vorbildfunktion und somit an Einfluss verloren.

Kinkel: Da kann ich nicht zustimmen. Ich kann verstehen, dass diejenigen, die im Süden an der Front sind, sagen: "Herrgottsakrament, wo bleibt ihr denn!" Aber ich glaube: Angesichts unserer Kapazitäten tun wir besser daran, im Norden Zivilaufbau zu leisten. Das Problem liegt oft eher eine Ebene über der nationalen. Was hätte den die EU alleine in Bosnien und Kosovo erreicht? Nichts! Da hat man die Amerikaner dann zu Hilfe gerufen. Das muss man der Gerechtigkeit halber sagen, bei aller berechtigten Kritik an Bushs Politik. Nach wie vor sind die Europäer nicht willens, eine wirkliche europäische Verteidigungsmacht aufzustellen. Was militärisch auf EU-Ebene stattfindet, ist eher mager.

SZ.de: Der Wille ist doch prinzipiell da. Wo hakt es?

Kinkel: Europa setzt nicht auf Synergien. Die Briten und Niederländer könnten sich zum Baispiel auf ihre Stärke als Seefahrernationen besinnen. Die Deutschen könnten sich auf Luftfahrt konzentrieren. Stattdessen will jeder alles machen. Unterm Strich müssen wir jedes Mal um Hilfe bitten, wenn es ernst wird. Deshalb nehmen uns die Amerikaner in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht ernst.

SZ.de: Sind denn die Amerikaner noch ernst zu nehmen? Präsident Bush sprach mit Blick auf den Iran im Herbst von der Gefahr eines Dritten Weltkrieges.

Kinkel: Was für Irak galt, gilt jetzt für den Iran: Eine Fehlbewertung seitens der Amerikaner. Wir haben es ja erst vor ein paar Tagen gesehen.

SZ.de: Sie meinen den Bericht der US-Geheimdienste, wonach Teheran sein Programm zum Bau einer Atombombe schon vor Jahren gestoppt hat.

Kinkel: Das ist natürlich eine Blamage. Deshalb muss man Amerika auch kritisieren, aber wieder: bitte in der richtigen Form. Die Vereinigten Staaten sind ein Ein-Thema-Land. Man hat sich dort zu lange auf den Iran fixiert, wie zuvor auf Irak, und das auf eine völlig einseitige Art und Weise. Es wird Zeit, dass ein neuer Präsident oder eine Präsidentin kommt, um die Lage neu zu analysieren und dann zu korrigieren. Die Amerikaner müssen raus aus dem Irak. Den richtigen Zeitpunkt zu finden, ist natürlich schwer. Sie haben gigantische Fehler gemacht.

SZ.de: Wie erklären Sie sich das?

Kinkel: Ich bin von Kopf bis Fuß "american minded". Aber ich stelle fest: Amerika hat als einzig verbliebene Weltmacht gewaltig an Sensibilität verloren. Die Amerikaner sind vor allem auch wenig sensibel, wenn es um ethnische und religiöse Probleme geht. Die gucken nicht hinter die Kulissen, sondern sehen das sehr stark strategisch und machtpolitisch.

SZ.de: In den letzten Jahren hat auch Russland versucht, an alte Sowjet-Zeiten anzuknüpfen. Präsident Putin geht dabei auch nicht gerade sensibel vor.

Kinkel: Putin versucht, dem gedemütigten Russland seine Ehre zurückzugeben. Er tut das über Gazprom, die KSZE-Geschichte und das übrige Großmachtgehabe - und kommt damit beim Volk an. Deshalb stützen ihn auch die einfachen Leute, wenn er solche Schachzüge macht wie mit seinem Wunschnachfolger Medwedew, der ihn zum Premier machen soll. Aber vielleicht ist Russland derzeit nur so regierbar, wie er das tut.

SZ.de: Sie haben Verständnis dafür, wie Putin das Land regiert?

Kinkel: Nein. Aber wir sollten auch da vorsichtig sein in der Beurteilung. Derzeit sind mir die Medien zu negativ. Auch im Falle Russlands gilt: Sie müssen sich hineinversetzen, dann erschließt sich einem eine andere Sicht der Dinge.

SZ.de: Sie werden Putin jetzt nicht zum "lupenreinen Demokrat" hochstilisieren, wie es Schröder gemacht hat, oder?

Kinkel: Nein, natürlich ist er das nicht, auch nicht aus russischer Sicht! Aber bei Putin verhält es sich ähnlich wie seinerzeit bei Ariel Scharon: Viele fühlen sich gut aufgehoben. Die Israelis mochten Scharon nicht unbedingt, aber sie wussten: Bei ihm sind wir sicher.

SZ.de: Glauben Sie, dass Putin sich zu einem einsamen Diktator entwickeln wird?

Kinkel: Nein. Auch für ihn gilt die normative Kraft des Faktischen. Also: Gelassen bleiben. Wir dürfen nicht den Kernfehler machen wie derzeit im Falle Ahmadinedschad: Der iranische Präsident hätte nie so die Unterstützung der Bevölkerung, wenn die Amerikaner nicht pausenlos auf ihn eindringen würden. Das versammelt das Volk hinter ihm.

SZ.de: Es gibt gute Gründe für scharfe Kritik an dem iranischen Präsidenten. Er stellt den Holocaust in Frage, er spricht davon, Israel von der Landkarte zu radieren.

Kinkel: Ich empfinde eine tiefe Abscheu vor dem, was er sagt und macht. Aber wir sollten ihn nicht so hochstilisieren. Wir sollten uns nüchtern fragen: Was hat er für ein Potential? Antwort: Ein nicht so großes, wie er vorgibt. Er ist ein Großtöner.

SZ.de: Manche meinen: Mit so einem Tyrannen sollte man gar nicht reden.

Kinkel: Wer ist ein Tyrann? Saddam Hussein war einer. Und dennoch hat ihm seinerzeit Rumsfeld die Hand gegeben. Noch in meiner Zeit haben ihn die Amerikaner gepäppelt, und wie! Der Umgang mit Diktatoren ist ein ungeheuer spannungsgeladenes Verhältnis.

SZ.de: Geben Sie ein Beispiel.

Kinkel: Mache ich. Milosevic habe ich als riesigen Despoten kennen gelernt und wahrgenommen. Ich habe ihm - und da war ich einer der wenigen - so lang wie möglich nicht die Hand gegeben. Aber eines Tages musste ich, und zwar in dem Augenblick, als in den Wäldern des Kosovo 600.000 Menschen auf der Flucht waren. Es hatte keinen Wert mehr, zu sagen: Ich fahre nicht nach Belgrad. Irgendwann muss man miteinander reden, wenn es um Menschenleben geht. Mit klarer Sprache und eindeutiger Haltung.

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