Klaus Bölling zu Hessen:"Ypsilanti verdient Parteiordnungsverfahren"

Hessens SPD hat die Tuchfühlung zum Bürger verloren. Ypsilanti hätte wegen Parteidemontage ein Ordnungsverfahren verdient.

K. Bölling

Hohe Zeit, dass wieder einmal an den Dresdner Schuhmacher-Sohn erinnert wird. Herbert Wehner vollzog am 30. Juni 1960 die sogenannte "Kehrtwendung", nämlich das Bekenntnis seiner Partei zur Landesverteidigung, damit auch zur Nato. Nach etwa 80 Minuten folgten jene Sätze, die älteren Zeitgenossen immer noch gegenwärtig sind. Sie waren nicht nur an Franz Josef Strauß adressiert, nicht nur an das Plenum des Deutschen Bundestages. Diese Sätze, sein ureigenes politisches Credo, galten vor allem der eigenen Partei.

Klaus Bölling zu Hessen: Klaus Bölling, 80, war Regierungssprecher und Berater von Bundeskanzler Helmut Schmidt. Der SPD 1959 war er unter dem Einfluss Herbert Wehners beigetreten.

Klaus Bölling, 80, war Regierungssprecher und Berater von Bundeskanzler Helmut Schmidt. Der SPD 1959 war er unter dem Einfluss Herbert Wehners beigetreten.

(Foto: Foto: dpa)

Die Sozialdemokraten in Hessen - richtiger wohl: jene, die irgendwie von Andrea Ypsilanti verhext zu sein scheinen - haben von dieser Wehner-Rede augenscheinlich nie gehört. Ihnen sei das Zitat des "Zuchtmeisters" gewidmet: "Innenpolitische Gegnerschaft belebt die Demokratie. Ein Feindverhältnis aber, wie es von manchen gesucht und angestrebt wird, tötet schließlich die Demokratie, so harmlos das auch anfangen mag. Das geteilte Deutschland kann nicht unheilbar miteinander verfeindete christliche Demokraten und Sozialdemokraten ertragen."

Diese Maxime muss für alle Parteien erst recht im geeinten Deutschland verpflichtend sein. Die Ypsilanti-SPD hat mit noch nicht absehbaren Folgen gegen die gleichsam katechetischen Worte von Wehner verstoßen. Sie hat den demagogischen Wahlkämpfer Roland Koch zum Gottseibeiuns befördert, ein Rang, den sich der, wie man immer schon wissen konnte, höchst fähige und zugleich sehr biegsame Neoliberale dann doch nicht verdient hat. Es kann nur eine ganz persönliche Aversion der Ypsilanti-Truppe gewesen sein, auch ein gewisses Unterlegenheitsgefühl. Das kulminierte dann in der Losung "Koch muss weg" - koste es, was es wolle.

Nach dieser Logik musste der früher von den Genossen als eine starke politische Begabung geachtete Jürgen Walter als Spießgeselle von Koch denunziert werden, nur weil er ein Zusammengehen mit der Union, sogar unter Koch, als die in Wahrheit einzige realistische Option empfohlen hatte. Die Ypsilanti-Gefolgschaft berauschte sich stattdessen an der Vorstellung, gemeinsam mit den Grünen und der Linken, Koch zur Unperson zu machen. Da war bei Ypsilanti und großen Teilen der Hessen-SPD schierer Hass zu beobachten. Von Ratio keine Spur. Den ihre Glaubwürdigkeit über Nacht zerstörenden Wortbruch hat Ypsilanti inzwischen als einen eher handwerklichen Fehler zu schönen versucht.

Lesen Sie auf Seite zwei, was SPD-Chef Franz Müntefering nun tun muss.

"Ypsilanti verdient Parteiordnungsverfahren"

Was sind das für Sozialdemokraten in ihrem Umfeld, die, statt mit einer ehrlichen Selbstkritik zu beginnen, die Verantwortung für das definitive Scheitern ihrer Kandidatin jetzt an die "Abweichler" delegieren? Wer in bald einem Jahrhundert SPD-Mitgliedschaft in verschiedenen Ortsvereinen zugehört, manchmal mitgeredet und häufig auch geschwiegen hat, findet in dem Buch von Franz Müntefering ("Macht Politik") so etwas wie eine Erklärung.

Müntefering räumt ein, dass der Satz von Gerhard Schröder (die Überzeugung von Helmut Schmidt) "Erst das Land, dann die Partei" manchen Sozialdemokraten missfällt. Es gibt, sagt er, "aus der Geschichte der SPD gelegentlich noch das Gefühl, am Rande der Gesellschaft zu stehen". Das muss so übersetzt werden, dass sich gerade in Hessen Mandatsträger finden, deren Tuchfühlung mit den Bürgern gering ist, die es sich in einem faradayschen Käfig bequem machen, abgeschottet von der Außenwelt. Sie fühlen sich am besten, wenn sie unter sich sind.

Prototypisch für diese Erscheinung ist bis heute die Berliner SPD. Ihre schönsten Wahlsiege schaffte sie nicht aus eigener Kraft, sie verdankte sie lange Zeit allein der Leistung und dem Charisma von Willy Brandt. In Hamburg war es ähnlich. Bedeutende, ja große Bürgermeister beeindruckten das Wählervolk, nicht die Intrigen an der sogenannten Basis, wo um einträgliche Posten gestritten wurde.

In Hessen hat nun eine richtige Treibjagd auf die Dissidenten begonnen. Das ist abstoßend. Den vier Sozialdemokraten, die man ausschließen und ächten will, hat auch Müntefering zugestanden, dass sie ihrem Gewissen gefolgt sind. Recht spät, aber da sollte nicht der massive Druck außer Acht gelassen werden, der in unappetitlicher Weise früh schon auf die Abgeordnete Dagmar Metzger ausgeübt worden ist. Übertrieben, aber auch nicht ganz falsch, kann man von einer hessischen Variante des McCarthyismus sprechen. Drei Frauen und einem Mann, die sich viele Jahre für ihre Partei abgerackert haben, soll der Charakter abgesprochen werden. Das ist schändlich.

Frau Ypsilanti ist ein furioser Wahlkampf gelungen, bei dem ihr Roland Koch der beste Helfer gewesen ist. Jedwedem Rat hat sie sich verweigert. Nicht weniger als dreimal ist sie von Hans-Jochen Vogel eindringlich gewarnt worden. Der ehemalige Parteivorsitzende, Notarzt, besser: Psychotherapeut der SPD, hat ihr klarzumachen versucht, dass ein Wortbruch ("Niemals mit der Linken") nicht nur sie selber, sondern auch die SPD als Ganzes dauerhaft beschädigen und "substantiell zur Politikverdrossenheit" im ganzen Land beitragen werde.

Und so ist es gekommen. Seltsam eigentlich, dass in bürgerlich-intellektuellen Kreisen inzwischen Stimmen zu vernehmen sind, die nicht die Dissidenten in Schutz nehmen, sondern eine Frau, die sich gewaltig überschätzt hat und das immer noch tut.

Müntefering hat ihr und ihrem armen Strohmann für die Landtagswahl Glück gewünscht. Er kam nicht umhin. Was er von Ypsilanti denkt, darf er ja nicht aussprechen. In seinem Buch liest man den trefflichen Satz: "Flügel (in Parteien) sind nützlich, aber funktionieren tun sie nur, wenn auch ein Kopf da ist, der führt." Dieser Kopf, das ist nun er. Was kann er tun, um zu verhindern, dass Ypsilanti (in der Gerhard Schröder ein Leichtgewicht zu erkennen meinte) ihm und Frank-Walter Steinmeier den Aufstieg aus dem Tiefkeller der Umfragen merklich erschwert? Befehlen kann er nichts. Nur muss er jetzt seine ganze Autorität ins hessische Feld führen und die Hexenjagd abblasen, um weiteren Schaden abzuwenden.

Nicht die Dissidenten, wohl aber die hessische Parteivorsitzende hätte ein Parteiordnungsverfahren verdient, weil sie ihre Partei zielstrebig demoliert hat. Ihr Rivale Walter hat Ypsilantis Rücktritt gefordert. Sie denkt nicht daran. Achtzig Prozent der Wähler, so ist aus dem schönen Hessenland zu hören, würden applaudieren, wenn sie als einfache Parteisoldatin ins Glied zurückkehrt.

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