Kirche: Missbrauch:Der pädophile Pfarrer - ein begnadeter Schauspieler

"Ausgeschlossen, dass man Pfarrer H. jemals noch mit Jugendlichen arbeiten lässt" - so schrieb der Psychiater Werner Huth vor 25 Jahren über einen pädophilen Gottesmann. Doch das Erzbistum München ignorierte die Warnung. Huth erinnert sich im SZ-Gespräch auch an Joseph Ratzinger.

Matthias Drobinski

Doktor Werner Huth ist inzwischen 80 Jahre alt, er residiert in Nymphenburg an einem schwarzen Holzschreibtisch, an dessen einer Seite Hunderte Patienten den Lack abgewetzt haben. Er hat ein Gesicht wie ein ungemachtes Bett und weiße Haarsträhnen und ist Psycholanalytiker sowie Facharzt für Neurologie; über Jahrzehnte haben die evangelische und die katholische Kirche Mitarbeiter zu ihm geschickt, die seelische Probleme hatten - vor allem Menschen, wie es unschön heißt, mit Triebstörungen. Sein derzeit bekanntester Fall hat ihn nun dazu gebracht, die Diskretion zu durchbrechen, die in der Regel Voraussetzung seiner Arbeit ist.

Es geht um Pfarrer H., jenen Geistlichen, der als Kaplan von Essen nach München kam, weil er Kindern sexuelle Gewalt angetan hatte, und eine Therapie beginnen sollte - 1980, als Joseph Ratzinger Erzbischof in München war, der heutige Papst Benedikt XVI. Es geht um die Therapeutenehre. Huth sagt, er habe von Anfang an vor dem Mann gewarnt, vor allem davor, ihn mit Kindern und Jugendlichen arbeiten zu lassen.

Der damalige Generalvikar Gerhard Gruber hat, als der Fall bekannt wurde, erklärt, H.s Prognose sei so günstig gewesen, dass keine Bedenken bestanden, ihn in der Pfarrseelsorge einzusetzen. Eine Schönfärbung. Das Erzbischöfliche Ordinariat bezweifelt nicht, dass Huth die Wahrheit sagt - und so wird der Fall des Geistlichen H. auf deprimierende Weise exemplarisch: Wider besseres Wissen hat das Erzbistum einen pädophilen Priester eingesetzt, von Stelle zu Stelle geschoben, ihm trotz eines Gerichtsurteils eine große Gemeinde übertragen, bis zum Jahr 2008.

"1980 kam H. zu mir", erzählt der Therapeut. Huth wollte die Behandlung des damals 32-jährigen Priesters zuerst ablehnen. "Er zeigte wenig Einsicht in das, was geschehen war, er war nicht bereit, sich zu hinterfragen, es mangelte eklatant an Introspektionsfähigkeit, es gab bei ihm kaum das Bewusstsein, dass er sich ändern muss." Zudem hatte Huth den Eindruck, dass H. ihn anlog, ihm und auch sich selbst etwas vorspielte; der schlanke Mann war ein Schauspieltalent, er konnte Menschen für sich einnehmen. In Bottrop hatte er einmal als Kinderstar auf der Bühne gestanden.

Drei Auflagen

Der Therapeut nahm ihn doch, "man musste ja was machen", sagt er heute. Für eine Einzeltherapie hielt er ihn nicht geeignet - "er war narzisstisch, wie viele Pädophile". Es blieb die Gruppentherapie. Von Anfang an, darauf legt Huth großen Wert, habe er das Erzbistum gewarnt vor dem wenig einsichtsfähigen Mann.

"Ich habe ihm drei Auflagen gemacht: Erstens muss er sich von Kindern und Jugendlichen fernhalten, zweitens darf er keinen Alkohol trinken, drittens muss er sich einen Supervisor suchen, der ihn kontrolliert." Er habe mit dem damaligen Weihbischof Heinrich Graf von Soden-Fraunhofen geredet, auch mit Generalvikar Gruber, "ob die Warnung schriftlich oder mündlich kam, weiß ich nach 30 Jahren nicht mehr".

Spätestens 1985 aber - Kardinal Ratzinger ist inzwischen in Rom, der Erzbischof in München heißt Friedrich Wetter - erhält das Erzbistum Huths Einschätzung schriftlich. H. ist straffällig geworden, er hat alkoholisiert mit Minderjährigen Pornos geguckt, es gibt ein Verfahren vor dem Amtsgericht Ebersberg. Huths Kollege Johannes Kemper verfasst ein 60 Seiten umfassendes Gutachten, Huth beschreibt für das Gericht seine Eindrücke auf sechs Seiten.

"Wir waren uns beide einig", sagt Huth: H. darf nicht mit Kindern zusammenarbeiten, er braucht eine Entziehungskur, er braucht Aufsicht. Wie man dann den Mann nach einem Jahr, noch während der Bewährungsfrist, zum Pfarrer von Garching an der Alz machen konnte, ist Gruber bis heute ein Rätsel. Der letzte Satz seines Gutachtens lautete: "Ich halte es für ausgeschlossen, dass man Pfarrer H. jemals noch mit Jugendlichen arbeiten lässt." Dies sei ihm "in glaubhafter Weise selber klar geworden" - "da hatte ich mich geirrt", sagt Huth. Genberalvikar Gruber hat dagegen der SZ gesagt: "Nachdem, was mir die Therapeuten sagten, war es möglich, dass der Pfarrer wieder eingesetzt wird."

Was wusste Joseph Ratzinger?

Hätte Huth nicht spätestens da laut Alarm schlagen müssen, all seine Autorität in die Waagschale werfen müssen, damit H. nicht in den Gemeindedienst kommt? Das Gespräch wird zum Disput über die Möglichkeiten und Grenzen eines Therapeuten, der einem Erzbistum gegenübersteht, das nicht wahrhaben will, dass H. eine tickende Zeitbombe ist. "Irgendwann waren meine Grenzen erreicht", sagt Huth, "ich bin Arzt und nicht Personalchef." Bis 1992 ist H. bei ihm in der Gruppentherapie, "dort war er nicht wirklich integriert, er kam auch nicht aus innerer Einsicht, sondern weil er den Druck seiner Vorgesetzten spürte".

Huth, verordnete ihm das Medikament Antabus, das Vergiftungssymptome hervorruft, wenn einer nach der Einnahme Alkohol trinkt; H. nahm das Medikament nur unregelmäßig. Er fragte immer wieder nach, ob er sich auch von Kindern und Jugendlichen fernhielte, H. bejahte das - ihn kontrolliere doch der Weihbischof Soden-Fraunhofen, der nach seiner Pensionierung sogar in die Nähe von Garching gezogen ist.

1992 verließ H. die Therapie, Huth verlor den Kontakt zu ihm. Erst 16 Jahre später tauchte der Mann wieder auf, als ihn Wolfgang Schwab anrief, der Personalchef des Erzbistums - es seien Akten über H. aufgetaucht, die ihn stutzig machten. "Ich war entsetzt, als ich erfuhr, dass H. 150 Ministranten um sich versammelt hat." Das Erzbistum ließ nun ein drittes Gutachten über H. erstellen, vom Ulmer Forensik-Professor Friedmann Pfäfflin, der für die Deutsche Bischofskonferenz einschlägig auffällig gewordene Priester und Ordensleute begutachtet.

Huth: Ratzinger war mit dem Fall nicht befasst

"Zu meiner Überraschung erklärte es H. für voll verwendungsfähig", sagt Huth. Nun aber handelte das Erzbistum, "zum ersten Mal nach mehr als 25 Jahren", versetzte H. in die Tourismusseelsorge und verbot ihm jegliche Jugendarbeit - woran er sich nicht hielt. Noch einmal hat er ihn getroffen, jetzt, wo alles offenbar wurde. Er ist einem zerstörten Menschen begegnet.

Was der heutige Papst und damalige Erzbischof wusste? "Soweit ich das beurteilen kann, war Joseph Ratzinger mit dem Fall nicht befasst," sagt Huth. Es waren seine Untergebenen, die glaubten, sie hätten H. im Griff, der Weihbischof, der Generalvikar. Ob das den Erzbischof von der Verantwortung entbindet, ist eine andere Frage. Nur einmal, so sagt ein alter Prälat der SZ, sei es in einer Ordinariatssitzung um H. gegangen. "Die Sache ist zu beobachten" habe es da lediglich geheißen.

Derweil bereitet Siegfried Kneissl, der Missbrauchbeauftragte des Erzbistums, eine Reise nach Garching an der Alz vor - es gibt Hinweise, dass auch dort Pfarrer H. gegenüber Kindern und Jugendlichen Grenzen überschritt, die er nicht hätte überschreiten sollen. Er werde die Vorwürfe prüfen, sagt Kneissl. In der Tasche wird die Nummer des Staatsanwalts griffbereit sein.

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