Kirche: Anselm Bilgri:"Wir sprachen nie offen über Sexualität"

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Klartext zum Missbrauchsskandal: Der frühere Prior des Klosters Andechs, Anselm Bilgri, plädiert für eine Öffnung der Kirche - und kritisiert Bischof Mixa.

Oliver Das Gupta

Anselm Bilgri, Jahrgang 1953, kam in Unterhaching zur Welt. 1975 trat er in den Benediktinerorden ein, studierte Theologie und Philosophie, 1980 weihte ihn der damalige Münchner Erzbischof Joseph Ratzinger, der heutige Papst Benedikt XVI, zum Priester.

Der breiteren Öffentlichkeit wurde der Mönch Anselm Bilgri bekannt als Cellerar der Abtei St. Bonifaz und Prior im Kloster Andechs. Seit seinem Ordensaustritt lebt Bilgri als Buchautor in München. Er ist weiterhin Priester.

sueddeutsche.de: Herr Bilgri, der Missbrauchsskandal in katholischen Einrichtungen weitet sich von Tag zu Tag mehr aus. Was ist Ihr Rat an die Kirche in dieser Situation?

Anselm Bilgri: Kurzfristig: Unbedingte Offenheit, Klarheit und Transparenz. Auf keinen Fall etwas vertuschen oder auch nur den Eindruck erwecken, etwas verschleiern zu wollen.

sueddeutsche.de: Der Vatikan reagiert mit harschen Tönen auf die Missbrauchsmeldungen aus Irland, Deutschland und anderswo. Der deutsche Kurienkardinal Walter Kasper sprach davon, in der Kirche "aufräumen" zu wollen. Ist dies der richtige Weg?

Bilgri: Wenn Kardinal Kasper damit den offenen Umgang mit der Causa meint, dann ja. Aber wenn das "Aufräumen" bedeutet, dass man nur die alte Sexualmoral einhämmert und die Schotten dicht macht, dann tut sich die Kirche keinen Gefallen. In dieser Hinsicht folgt ihr die Gesellschaft nicht mehr.

sueddeutsche.de: Können Sie das näher erläutern?

Bilgri: Mit den Missbrauchsfällen wird ein für die Kirche ohnehin hochsensibles Thema berührt: Der Umgang mit Sexualität insgesamt. Fakt ist: Viele Katholiken empfinden heute die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung, die Kirche hält strikt dagegen. Und nun kommen ausgerechnet im innersten Kreis, bei Ordensleuten, immer neue Fälle ans Tageslicht, wo mit Sexualität in solch menschenverachtender Weise umgegangen wurde. Die Kirche hat damit ein Glaubwürdigkeitsproblem. Aber dieser Missbrauchsskandal trägt - so furchtbar er ist - auch eine Chance für die Kirche in sich.

sueddeutsche.de: Die da wäre?

Bilgri: ... dass sie sich jetzt offener mit Sexualität auseinandersetzt.

sueddeutsche.de: Was sie bislang nicht tut. Ultrakonservative Kirchenmänner wie der Augsburger Bischof Mixa geißeln den Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen sogar als Folge der sexuellen Revolution.

Bilgri: Ich halte dies für einen Fehlschluss. Es ist falsch, wenn die Kirche sich angesichts dieser furchtbaren Fälle einigelt.

sueddeutsche.de: Herr Mixa tendiert zum Verbarrikadieren.

Bilgri: Bischof Mixa vertritt ja bloß die herkömmliche katholische Sexualmoral. Die besagt, Sex dürfte nur in der Ehe stattfinden. Alles andere ist Sünde, sogar schwere Sünde. Dieser Charakter der schweren Sünde ist die Hauptbarriere, hier sollte man ansetzen. Es müssten andere Wege gefunden werden.

sueddeutsche.de: Wie könnte so ein Ansatz lauten?

Bilgri: Beispielsweise, indem die Kirche auch einen Lernprozess im Bereich der Sexualität auf dem Weg zu dieser Vollform Ehe akzeptiert, ein Unterwegssein. Voraussetzung ist selbstverständlich: Die Freiheit anderer Menschen darf nie beeinträchtigt werden.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Anselm Bilgri auch das Thema Zölibat diskutieren will.

sueddeutsche.de: Ist es an der Zeit, dass das Zölibat, die vorgeschriebene Ehelosigkeit für Priester, fällt?

Bilgri: Langfristig wird das Thema auf den Tisch kommen, da kann sich die Kirche wehren, wie sie will. Die Menschen verstehen das einfach nicht mehr als Zeichen für eine andere Wirklichkeit.

sueddeutsche.de: Warum langfristig, warum nicht schon jetzt? Den einfachen Gläubigen auf der Straße fällt sofort das Schlagwort Zölibat ein, wenn sie an sexuellen Missbrauch und Kirche denken.

Bilgri: Man muss unterscheiden: Der Zölibat ist die Verpflichtung des Weltpriesters zur Ehelosigkeit. Die Kirche könnte diese Vorschrift kippen. Bei Mönchen gibt es andere Grundvoraussetzungen: Die Ehelosigkeit eines Ordensmitglieds ist konstitutiv.

sueddeutsche.de: Sie waren selbst viele Jahre Benediktinermönch. War Sexualität im Kloster Andechs ein Thema?

Bilgri: Wir haben nie offen darüber gesprochen.

sueddeutsche.de: Angenommen, ein Ordensmitglied hätte ein Problem in Sachen Sexualität, was kann er tun?

Bilgri: Er könnte sich schon vertrauensvoll an jemanden wenden, aber es wäre für alle hilfreich, wenn es ein Klima gäbe, in dem jeder erzählen könnte, was ihn umtreibt und wie er damit umgeht. Missbrauch könnte dadurch sicherlich nicht ausgeschlossen werden. Aber so würde die Chance bestehen, Fehlentwicklungen früh zu erkennen oder erst gar nicht entstehen zu lassen.

sueddeutsche.de: Die Implementierung einer solchen Neuerung in jahrhundertealten Orden dürfte denkbar schwer sein.

Bilgri: Sicher: Das geht nicht von heute auf morgen, das muss man erst lernen. Das können sicherlich nicht nur Ausbilder innerhalb eines Ordens leisten, da sollte man auch Leute von außen holen. Schon junge Ordensmitglieder sollten dazu befähigt werden, über ihre Sexualität zu sprechen.

sueddeutsche.de: Enthaltsamkeit gehört zu den Gelübden, die Mönche und Nonnen ablegen. Halten Sie dieses lebenslange Versprechen als mögliche Quelle für Fehlentwicklungen?

Bilgri: Ich denke ja, schließlich spiegelt die Scheu des modernen Menschen vor solch einer weitgehenden Beschränkung sich auch in den massiven Nachwuchsproblemen der Orden wider.

sueddeutsche.de: Sexuelle Enthaltsamkeit für den Rest des Lebens - für die meisten Nichtkleriker ist das unvorstellbar.

Bilgri: Mir ist das Psychogramm der Missbrauchstäter nicht bekannt, aber ich denke, dass es sich dabei mehrheitlich um Leute handelt, bei denen so nach ein, zwei Jahrzehnten Ordenszugehörigkeit eine starke religiöse Desillusionierung eingetreten ist.

sueddeutsche.de: Eine Lösung wäre der Austritt ...

Bilgri: ... der nach wie vor einen negativen Beigeschmack hat, auch für den Orden. Für den Betroffenen bedeutet es auch, dass er plötzlich mittellos dasteht. Ich bin da die Ausnahme, weil ich die Möglichkeit hatte, wirtschaftlich zu überleben.

sueddeutsche.de: Sind die Orden mittelfristig überhaupt in der Lage, zu überleben?

Bilgri: Ich glaube und hoffe das. Man sollte sicherlich darüber nachdenken, das Ordensleben durchlässiger zu gestalten. Im asiatischen Mönchtum ist es gang und gäbe, dass man eine Zeitlang im Kloster bleibt, aber es auch wieder verlassen darf - ohne Schimpf und Schande.

sueddeutsche.de: Können Sie erklären, warum für die katholische Kirche beim Thema Sexualität immer etwas Sündiges mitschwingt?

Bilgri: Die Antwort liegt sicherlich in den ersten Jahrhunderten nach Christus. Damals setzte sich das Christentum mit dem Hellenismus auseinander, der viel körperfeindlicher war: Das Bild vom Leib als Gefängnis der Seele wurde übernommen.

sueddeutsche.de: Herr Bilgri, in der katholischen Kirche kann es keine Veränderungen geben, ohne das Plazet des Papstes. Erwarten Sie Reformschritte im Pontifikat des deutschen Papstes Benedikt XVI.?

Bilgri: Offen gesagt: Ich mache mir da nicht mehr so viele Hoffnungen. Ich verehre Joseph Ratzinger sehr, seitdem ich ihn als Münchner Erzbischof kennengelernt habe; er war es, der mich 1980 geweiht hat.

sueddeutsche.de: Machte er damals auf Sie einen reformfreudigen Eindruck?

Bilgri: Er machte uns damals leise Hoffnungen hinsichtlich der Wiederzulassung zur Kommunion für Geschiedene und Wiederverheiratete. Zumindest in diesem Punkt hätte ich eine Milderung erwartet.

sueddeutsche.de: Inzwischen ist Ratzinger Pontifex und sagt nein.

Bilgri: Ein grundsätzliches Problem der Kirche ist sicherlich, dass sie als die große Neinsagerin wahrgenommen wird. Sie wirkt so, als ob sie immer und überall mit dem mahnenden Zeigefinger auftritt; als ob sie es nicht schafft, wenigstens in einigen Bereichen zum positiven Motor einer Entwicklung zu werden.

sueddeutsche.de: Hätte die Kirche denn das Potential dazu?

Bilgri: Ich glaube das, ja. Jahrhunderte der Kirchengeschichte hat sie es gezeigt. Denken Sie nicht nur an Galileo Galilei, sondern die Zeit davor: Im sogenannten finsteren Mittelalter hat wissenschaftliche Auseinandersetzung vor allem in theologischen Fakultäten stattgefunden. Die Philosophie der Antike wurde in Klosterbibliotheken für die Neuzeit bewahrt. Man stellte sich allen Problemen, die das Denken bot, und diskutierte offen. Den Satz "Bis hierher und nicht weiter" gab es nur ganz selten.

sueddeutsche.de: Wo sehen Sie heute die Felder, auf denen die Kirche Vorreiterin sein könnte?

Bilgri: Ganz klar: im sozialen Bereich. Als Beispiel sei nur die Option für die Armen erwähnt. Sowohl Papst Benedikt XVI. als auch sein Vorgänger Johannes Paul II. haben aus ihren eher antikapitalistischen Ansichten nie einen Hehl gemacht. Das, was aus dem Vatikan kommt, ist durchaus in die Zukunft gerichtet. Dies geht leider immer wieder unter.

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