Kindesmissbrauch:"Tief erschütternd"

Kindesmissbrauch: Bei fast 60 600 Kindern und Jugendlichen haben die Jugendämter im vergangenen Jahr eine Kindeswohlgefährdung festgestellt.

Bei fast 60 600 Kindern und Jugendlichen haben die Jugendämter im vergangenen Jahr eine Kindeswohlgefährdung festgestellt.

(Foto: Jörg Buschmann)

Eine unabhängige Kommission hat Hunderte Betroffene von sexuellem Kindesmissbrauch angehört.

Es passiert jeden Tag. Mitten in der Gesellschaft. Der wohl übergroße Teil dessen, was da passiert, wird nie bekannt. Doch die Betroffenen verfolgt das Geschehene jeden Tag, viele von ihnen können nie darüber reden. Doch nun haben Hunderte Betroffene gesprochen, mit einer unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs. Diese Kommission, die vor einem Jahr ihre Tätigkeit aufnahm und sexuellen Kindesmissbrauch in der BRD und der DDR untersuchen soll, wird an diesem Mittwoch ihren ersten Zwischenbericht vorstellen. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig hat ihn schon gelesen. Sein Fazit: "Der Bericht ist tief erschütternd".

Manche Betroffene hätten zum ersten Mal über ihre Erlebnisse gesprochen, sagte Rörig den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Er sei sehr froh, dass es die Kommission trotz des Widerstands der großen Koalition gebe. Seit Mai 2016 haben sich danach bei der Kommission rund 1000 Betroffene und andere Zeitzeugen für eine vertrauliche Anhörung gemeldet. Davon konnten bisher etwa 200 durchgeführt werden. Zusätzlich sind 170 schriftliche Berichte eingegangen. Der Bericht gebe einen intensiven Einblick in das Leid missbrauchter Kinder und das Versagen ihres Umfelds.

"Wir müssen alle wissen, was Kindern passiert und was es bedeutet, wenn Kinder von sexueller Gewalt betroffen sind", so lautet das Credo der Kommissionsvorsitzenden Sabine Andresen. "Wir wollen Betroffenen zeigen, dass sie nicht allein sind. Dass Sprechen hilft und Missbrauch verhindern kann. Betroffene von sexuellem Missbrauch sind angewiesen auf Mitmenschen und eine Zivilgesellschaft, die nicht die Augen verschließen", hatte sie anlässlich eines öffentlichen Hearings zu dem Thema im Januar gesagt.

Rörig beklagte, dass die Zahl der Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch bisher nicht zurückgegangen sei. "Wir haben eine ungebrochen hohe Fallzahl. Jedes Jahr gibt es mehr als 12 000 Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Kindesmissbrauchs. Das Dunkelfeld ist noch sehr viel größer", sagte der Missbrauchsbeauftragte der Regierung. Dunkelfeldforschungen aus den vergangenen Jahren gehen davon aus, dass jede oder jeder Achte bis Zwölfte in Deutschland als Mädchen oder Junge sexuelle Gewalt erlitten hat. Die Weltgesundheitsorganisation geht von etwa 18 Millionen Minderjährigen aus, die in Europa von sexueller Gewalt betroffen sind. Das sind auf Deutschland übertragen etwa eine Million Mädchen und Jungen. Dabei reicht das Spektrum sexueller Gewalt von Erwachsenen gegen Kinder von sexuellen Übergriffen wie anzüglicher sexualisierter Sprache über strafbare sexuelle Handlungen wie das Anfassen der Genitalien bis zu schwerem sexuellen Missbrauch durch orale, vaginale oder anale Penetration.

Politik und Gesellschaft seien abgestumpft, beklagt der Missbrauchsbeauftragte

Scharfe Kritik übte Rörig an Politik und Zivilgesellschaft. Nach den ersten großen Missbrauchsskandalen sei die Aufmerksamkeit groß gewesen. Doch das habe sich mittlerweile geändert: "Politik und Gesellschaft sind in den letzten Jahren abgestumpft, viele verdrängen die Missbrauchsopfer, sie schauen wieder weg." Die Bekämpfung des Missbrauchs sei in der Zeit der großen Koalition "auf politischer Sparflamme" gelaufen. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) habe es versäumt, die Reform des Opferentschädigungsgesetzes auf den Weg zu bringen. Rörig sprach von einer "Riesenenttäuschung".

Dazu passt die Klage der Kommission, sie könne womöglich nicht alle Anhörungen wegen mangelnder finanzieller Mittel bearbeiten. Darüber hatte der Spiegel berichtet. Bisher hatten sich etwa 1000 Betroffene gemeldet, diese könnten auch bis zum März 2019 alle angehört werden - zu diesem Zeitpunkt endet die Arbeit der Kommission. "Aber wir wissen schon heute, dass der Bedarf noch viel größer ist", betonte Kommissions-Sprecherin Kirsti Kriegel. "Wir setzen uns sehr dafür ein, dass unsere Mittel bereits in 2018 aufgestockt werden und dass die Kommission ihre Arbeit im April 2019 weiterführen kann."

Laut eigenen Angaben hat die Kommission ein jährliches Budget von 1,4 Millionen Euro aus Mitteln des Familien- und Justizministeriums. Einer in England und Wales eingesetzten Kommission mit ähnlichen Aufgaben stünden pro Jahr umgerechnet 23 Millionen Euro zur Verfügung, schrieb der Spiegel.

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