Kinderlandverschickung am Ammersee:"Wir lebten in unserer eigenen Welt"

Oskar Zobel, damals 13 Jahre alt, verbrachte das Frühjahr 1945 auf dem Land, wo der Krieg seltsam fern erschien.

April 1945! - Ich war 13 Jahre alt und befand mich seit Herbst 1944 als Nachzügler, da in München kein Unterricht mehr stattfand, bei meinen früheren Kameraden im KLV-Lager in Dießen am Ammersee.

Hier bevölkerten die vier Klassen unseres Schulbereiches zunächst das Kloster "St. Vinzenz", später meine Klasse allein das Hotel "Neue Post" nebst dem Gasthof "Maurerhansl", und schließlich wieder alle zusammen das Hotel "Ammersee".

Es war für uns auch irgendwie ein unwirklicher Zustand. Im abgelaufenen halben Jahr kam der Krieg immer näher, doch wurden uns immer noch beispielsweise die vergangene Ardennenoffensive und die anstehenden Wunderwaffen sowie der Tod des amerikanischen Präsidenten Roosevelt als Beweise für eine bevorstehende Wende benannt.

Leben in einer eigenen Welt

Unabhängig davon lebten wir in unserem selbstentstandenen Jugend-Klan in einer eigenen Welt. Wir waren darüber hinaus trotz aller "weltanschaulichen" Beeinflussung letztlich alle von unseren Elternhäusern geprägt.

Die einen standen von dort her unter einem gewissen nazistischen Einfluss, die anderen nicht, wenngleich letztere aus Gründen der Selbsterhaltung von den politischen Vorstellungen ihrer Familien nur in Umrissen wussten.

So habe ich beispielsweise erst in den letzten Apriltagen von meiner Mutter erfahren, dass der älteste Bruder meines Vaters, der Onkel Hans, bereits vor dem Kriege wegen des Verteilens von Flugblättern gegen Hitler für einige Jahre zu den ersten "Bewohnern" des Konzentrationslagers Dachau gehört hatte.

Weiter kam erst nach dem Kriege auf Fragen des Lehrers heraus, dass der Vater eines Mitschülers als politischer Häftling im Konzentrationslager Mauthausen ermordet worden war.

Mitschüler mit strammen Nazi-Vater

Andererseits gab es in dieser Zeit beispielsweise bei einem Mitschüler mit seinem strammen Nazi-Vater eine Begrüßung in der Weise, dass man zuerst beiderseits die Hände zum quasi Hitler-Gruß erhob und sich erst dann die Hände gab.

Dies löste bei uns allerdings auch nur eine gewisse verständnislose Irritation aus. Auf unsere jugendliche Verbundenheit hatte das alles aber keinen Einfluss.

Während alles in Trümmer ging, streiften wir durch das Gelände am See und am Schatzberg, auf dem ursprünglich die Stammburg der Grafen von Dießen-Andechs stand, waren hinter Essen her, und verschlangen mit großer Vorliebe im Untergrund zirkulierende nicht zur herrschenden "Weltanschauung" passende so genannte "Schundhefte" von "Sun Koh, dem Erben von Atlantis" bis zu "John Kling", einem "Abenteurer-Detektiv".

Gedankenblitze zur tatsächlichen Welt

Dazwischen gab es aber immer wieder Gedankenblitze zur tatsächlichen Welt; so ist mir gerade und ausgerechnet "Crailsheim" im Gedächtnis haften geblieben; es hieß nämlich einmal zwangsläufig, dass die amerikanischen Truppen dort stünden, worauf ich heftig über die Lage dieses Ortes und den andererseits behaupteten Endsieg sinnierte.

Inzwischen wurde es aber ohnedies in unserem KLV-Lager kritisch. Die Amerikaner standen bei der Donau und unsere Mütter erschienen, um uns nach Hause zu holen.

Letzter Apell im Speisesaal

Im Speisesaal ging noch ein heftiger Appell des Lagerleiters voraus, die Kinder in Dießen zu lassen, denn München "sie zur Festung erklärt worden und werde sozusagen bis zum letzten Stein verteidigt" (!). Aber das half nichts.

In unserer Obergiesinger Wohnung verlebte ich dann die letzten Tage der Nazizeit, die doch nicht mehr vom Krieg geprägt waren, sicher auch wegen des Aufstandes der "Freiheitsaktion Bayern" (FAB), deren Aufrufe - "Stichwort Fasanenjagd" beispielsweise - über die "normale" Rundfunkwelle und die Gegenappelle des Gauleiters Giesler über die "Holzhacker"-Welle des Luftwarndienstes mir noch in starker Erinnerung sind.

Am 30. April oder 1. Mai steckte dann plötzlich unsere Hauseigentürmer, der alte Hofstetter, eine große weiße Fahne zum 1. Stock heraus und ich sah auf der hinter einer Gärtnerei entlangführenden Deisenhofener Straße amerikanische Panzer mit aufgesessenen Soldaten stadtauswärts fahren.

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